Die Nachhilfestunde 41: Happy Birthday!

Mit einem erleichterten Seufzer schloss Frank Steinkamp die Tür seines Büros hinter sich. Nach fast 24 Stunden Dienst war nun sein wohlverdienter Feierabend gekommen. Endlich! Endlich raus aus dem Krankenhaus, nach draußen an die frische Luft treten, nach Hause fahren und wenigstens für ein paar Stunden die Arbeit hinter sich lassen. Er lächelte, als er auf den Aufzug wartete, der ihn ins Erdgeschoss bringen sollte, für das Treppenhaus war er schon zu müde. Obwohl er andauernd solch hohe Überstunden verzeichnen musste, liebte er diesen Beruf dennoch über alles. Es hatte noch nicht einen Tag gegeben, an dem er es bereut hatte, überhaupt das Medizinstudium aufgenommen zu haben. Und so hatte er sich für Peggy eigentlich auch immer gewünscht, dass auch sie ihre Berufung in einem Doktortitel fand. Aber mittlerweile hatte er sich irgendwie damit abgefunden, dass seine Tochter wohl niemals den gleichen Weg einschlagen würde, wie er.
Frank trat aus dem Aufzug und durchquerte die Eingangshalle Richtung Ausgang. Es war kurz nach 18 Uhr, verglichen mit dem Trubel, der tagsüber herrschte, war es jetzt angenehm ruhig und still. Es waren nur noch wenige Besucher da, einige Schwestern und Pfleger grüßten oder verabschiedeten ihn mit einem halbherzigen Nicken, jeder in seine eigenen Gedanken an den Job oder den bevorstehenden Feierabend vertieft. So wie er selber ...
>>Frank, guten Abend!<< erklang da eine hohe Frauenstimme hinter ihm und noch bevor er sich umgedreht hatte wusste er, wem sie gehörte.
>>Hallo Olivia. << Frank rang sich ein freundliches Lächeln ab und begrüßte seine Kollegin. Olivia Bachmann war Chefärztin der Frauenklinik und so hatte er zwar nur selten etwas mit ihr zu tun, dennoch kannte man sich natürlich. Und die Etikette verlangte es nun mal, dass er wenigstens einige Minuten stehen blieb und Smaltalk hielt.
>>Schon Feierabend?<< fragte sie und Frank lachte. >>Schon ist gut! Das waren heute wieder fast sechs Überstunden. << - >>Jaja, was tut man nicht alles für seinen Job, nicht wahr?<< erwiderte Olivia und ihre dunkelgrünen Augen zwinkerten. >>Sie können mich aber gerne begleiten. Ich bin eh gerade auf dem Weg zu ihr. << Frank stutzte und sah seine Kollegin fragend an. >>Auf dem Weg zu wem?<< - >>Zu Peggy. Es sieht so aus, als wenn es bei Ihrer Tochter ernst wird, Frank. Sie ist seit einer halben Stunde im Kreißsaal. <<
Frank schluckte und spürte sein Herz schneller schlagen. Peggy im Kreißsaal! Jetzt schon? Sollte das Kind nicht erst in 2 Wochen kommen? Und wusste Natascha bescheid? Olivia deutete mit einer knappen Geste in Richtung der Aufzüge. >>Wollen wir?<< - >>Nein!<< Das Wort war ausgesprochen, noch bevor Frank seine umherwirbelnden Gedanken geordnet hatte.
Die Ärztin blickte ihn zuerst überrascht, dann fragend an. >>Wieso nein?<< - >>Peggy und ich hatten in der letzten Zeit einige Differenzen und ich glaube nicht, dass es viel Sinn machen würde, wenn wir ausgerechnet jetzt aufeinander treffen würden. << Seine Stimme war fest, sodass Olivia unsicher wurde. >>Aber vielleicht würde es ihr guttun, wenn Sie ihr ein bisschen beistehen
würden. <<- >>Ich war von Anfang an dagegen,dass sie das Baby bekommt und Peggy weiß das. Deswegen wird sie gut ohne mich zurecht kommen,denke ich. Und Mark, ihr Freund, wird wohl an ihrer Seite sein. << antwortete Frank und Olivia fiel keine Erwiderung ein. Sie merkte, dass es ohnehin wohl nicht viel gebracht hätte, ihn davon zu überzeugen, wenigstens kurz nach seiner Tochter zu sehen, so entschlossen, wie er war. Oder sah er nur so aus?
>>Gut, dann ...werde ich jetzt zu ihr gehen. << sagte sie, sah ihn noch einmal irritiert an und wollte sich gerade entfernen, als Frank sie noch einmal aufhielt. >>Olivia?<< - >>Ja?<<  - >>Wie geht es ihr?<< - >>Sie hat eindeutig Wehen, aber die sind noch sehr unregelmäßig und unterschiedlich stark. Wie lange es dauert ist noch nicht abzusehen. << Frank nickte und sie erkannte nun doch einen Hauch Nervosität auf seinem Gesicht. >>Bitte sagen Sie mir bescheid, wenn etwas sein sollte. Die Nummer meines Piepers haben Sie ja. << - >>Natürlich. << lächelte Olivia und trat dann auf die Aufzüge zu, während Frank allmählich auf den Ausgang zu ging. Immernoch lächelnd schüttelte sie den Kopf. Sie ging nicht davon aus, dass er seine Fassade noch lange aufrecht erhalten konnte. Er wäre der erste Vater, den die der Geburt seines Enkels völlig kalt lassen würde.


>>Vielleicht hätten wir doch besser den Kreißsaal in lila genommen. << sagte Mark leise und strich Peggy die Haare aus der schweißnassen Stirn. Sie lag auf dem gelben kreisrunden Bett, die Augen geschlossen, die Hand halb ängstlich, halb dankbar an Marks geklammert und versuchte, so gut es ging ihre Atmung zu kontrollierten. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun, um gegen den Schmerz anzukommen.
>>Ehrlich gesagt ist mir die Farbe momentan scheiß egal. << flüsterte sie, öffnete mühsam die Augen und sah Mark, der neben dem Bett saß und voller Besorgnis auf sie herabblickte. >>Ich wünschte, ich könnte dir helfen. << sagte er und berührte vorsichtig ihre Wange, Peggy lächelte schwach. >>Das tust du,glaub mir! << - >>Du weißt, dass ich dir das abnehmen würde, wenn ich könnte. << - >>Ich weiß. << bestätigte Peggy und konzentrierte sich wieder auf das regelmäßige dumpfe Pochen, das das CTG-Gerät von sich gab. Dieses Pochen war es, was ihr irgendwie Kraft gab! Das hielt sie wach, das half ihr! Das waren die Herztöne des kleinen Lebewesens. Und sie lauschte ihnen weiter, um den Grund für all das hier nicht zu vergessen.
Die Tür des Kreißsaals wurde aufgeschoben und Hanna trat auf das Bett zu und kontrollierte die Aufzeichnungen aus dem CTG. Mark bemerkte, wie gelassen und routiniert sie wirkte, beinah entspannt. Und irgendwie beruhigte ihn das. >>Wie geht's dir, Peggy?<< fragte Hanna und setzte sich neben sie auf das Bett. Peggy atmete tief durch. >>Naja, es ist auszuhalten. << - >>Hast du denn noch Schmerzen?<< - >>Ja, aber momentan ist das eher ein Druckgefühl und nicht mehr dieses furchtbare Ziehen, das ich vorhin hatte. << Hanna nickte und warf erneut einen Blick auf die unzähligen Zacken und Wellen, die auf dem Papier des CTG-Gerätes zu sehen waren. >>Was heißt das denn?<< fragte Mark und folgte Hannas Blick, doch er konnte mit dem, was das Gerät da ausspuckte rein gar nichts anfangen. Hanna riss das lange Papier ab und notierte die Uhrzeit darauf. >>Deine Wehen sind schwächer geworden. Als du hier ankamst, sah das noch ganz anders aus. Da dachte ich, du würdest in den nächsten 10 Minuten dein Kind kriegen, aber
jetzt... << - >>Heißt das, wir sollen noch mal nach Hause?<< wollte Peggy wissen, doch Hanna schüttelte den Kopf. >>Nein. Es war gut und richtig, dass ihr gekommen seid. << - >>Und wie lange dauert es jetzt noch?<< - >>Es kann ganz schnell gehen, innerhalb der nächsten paar Stunden, es kann aber auch die ganze Nacht dauern. Das kann man nie genau sagen. Jetzt heißt es einfach abwarten, bis eure kleine Maus weitermacht. <<
Peggy wurde heiß. Die ganze Nacht? Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die direkt über der Tür hing: 18:30 Uhr. Na, da hatte sie ja noch was vor sich. Sie ließ den Kopf auf das Kissen zurückfallen und atmete tief aus. Wie konnte das sein, dass sie vor einer Stunde die heftigsten Schmerzen gehabt hatte, jetzt aber kaum etwas spürte? Das war doch verrückt!
>>Wenn du möchtest, kannst du gerne ein paar Schritte laufen. << schlug Hanna vor. >>Hier im Raum, über den Flur, vielleicht ein paar Treppenstufen. Oftmals ist das schon hilfreich, damit die Geburt in Gang kommt. Und danach machen wir nochmal ein CTG und schauen, was sich getan hat. << Sie entfernte die Knöpfe und den Gummigurt des Gerätes von Peggys Bauch und half ihr, sich aufzusetzen. Unsicher sah Peggy zu Mark. >>Kommst du mit?<< - >>Selbstverständlich!<<
In der nächsten Stunde gingen Peggy und Mark den Flur der Babystation gefühlte 100 Mal hin und her, stiegen Treppen und hofften, dass sich möglichst schnell etwas tun würde! Doch noch immer spürte Peggy lediglich einen Druck im Bauch, der zwar auch ziemlich unangenehm, im Vergleich zu vorhin jedoch nichts war! Erschöpft lehnte sie sich an das Treppengeländer und schloss die Augen. >>Und wenn's jetzt wirklich die ganze Nacht so weitergeht?<< fragte sie und Mark hörte deutlich die Angst in ihrer Stimme. Er legte beruhigend den Arm um sie und gab ihr einen zarten Kuss. >>Dann werden wir auch das zusammen schaffen. << - >>Wieso macht unsere Tochter es uns so schwer?<< - >>Sie macht es spannend für Mama und Papa. << erwiderte Mark und grinste. >>Das hat sie von dir! Du weißt auch, wie du mich auf die Folter spannen kannst. << Peggy lachte vorsichtig und seufzte, als sie auf die Stufen deutete, die vor ihnen lagen. >>Nächste Treppe?<< - >>Nächste Treppe. << nickte Mark, doch da blieb Peggy plötzlich stehen und presste die Augen zusammen. Da war es wieder! Dieses Ziehen, das sich anfühlte, als würde jemand einen Eisenring über ihren Bauch zusammendrücken.
>>Sollen wir zurückgehen?<< fragte Mark schnell und sie nickte, bevor ihr der Schmerz noch einmal die Luft zum Atmen raubte.


Doch auch zurück im Kreißsaal, blieb Peggy auf den Beinen. Sitzen konnte sie nicht, auch liegen war momentan unmöglich! Der Druck war mittlerweile einem unaufhörlichem Ziehen gewichen und nur wenn sie auf- und abging hatte sie das Gefühl, den Schmerz wenigstens halbwegs ertragen zu können.
Sie stütze die Arme auf der Fensterbank auf und beugte sich nach vorne, ließ den Kopf fallen und atmete tief gegen den Schmerz. So hatte sie es irgendwann einmal im Geburtstvorbereitungskurs gelernt, doch sie hatte den Eindruck, dass all diese Übungen überhaupt nichts brachten! Die Schmerzen blieben und wurden immer schlimmer! Mark trat neben sie und legte ihr unsicher die Hand auf den Rücken. Wenn er doch nur irgendetwas tun könnte! Diese Hilflosigkeit machte ihn wahnsinnig!
>>Willst du was trinken?<< fragte er, Peggy schüttelte den Kopf, ohne etwas zu erwidern. >>Oder willst du doch ins Wasser? Vielleicht entspannt dich das ein bisschen.<< - >>Nein verdammt, will ich nicht!<< rief Peggy gereizt und im gleichen Augenblick tat es ihr schon wieder leid, aber momentan war sie nicht sie selbst. Momentan fühlte es sich an, als wäre  ihr ganzer Körper ein einzig großer Schmerz!
Mark fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dass es so heftig werden würde, hätte er nicht gedacht! >>Kann ich irgendwas für dich tun, Süße?<< Peggy seufzte, richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken. >>Sorg dafür, dass diese scheiß Schmerzen endlich aufhören!<< antwortete sie und ging wieder einige Schritte im Raum umher. Mark lächelte unsicher und folgte ihr langsam, während Peggy immer wieder stehen blieb und vor Schmerzen wimmerte. Jedes Mal ging es ihm durch und durch! >>Mach was, irgendwas!<< bettelte sie, Mark schluckte. >>Was denn?<< - >>Ist mir egal, mach irgendwas!<< - >>Peggy, ich kann gegen deine Schmerzen nichts tun. << - >>Bitte Mark!<< flüsterte sie, blieb wieder stehen und beugte sich erneut nach vorne. >>Soll ich Hanna holen?<< fragte er, doch sie antwortete nicht. Er hörte nur ihr beginnendes Schluchzen und wusste, dass sie fertig mit den Nerven war! In dem Moment trat Hanna zu den beiden und während Mark bei Peggys Anblick angst und bange wurde, blieb Hanna auch jetzt noch völlig ruhig. Sie ging zu Peggy und legte die Arme um sie. >>Hey, was ist los?<< fragte sie sanft, Peggy hob den Kopf und Mark sah nun deutlich ihre Tränen und ihre Verzweiflung. >>Ich halte das nicht mehr aus, Hanna! << flüsterte sie, Hanna lächelte mitfühlend. >>Du schaffst das! Alle Mamas haben das
geschafft. << - >>Nein, ich nicht. Ich will das nicht. <<- >>Aber du willst doch dein Kind bekommen,oder? Da musst du jetzt durch. <<  - >>Mann, ich kann einfach mehr, okay?<< rief Peggy und sah Hanna aufgebracht an. Sie wusste doch gar nicht, was sie hier durchmachte. Und Mark wusste das auch nicht! Keiner wusste, was für unsagbare Schmerzen sie hatte! Die hatten alle leicht reden!
>>Magst du dich mal hinlegen? Ich wollte ich gerade untersuchen und schauen, wie weit wir schon sind. << sagte Hanna ruhig, ohne auf Peggys Ausbruch einzugehen. Sie hatte solche Situationen schon so oft erlebt: werdende Mütter, mitten in den Wehen, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Und mit den Jahren der Berufserfahrung wusste sie inzwischen, wie sie sich verhalten musste.
Peggy presste kurz die Hände vor ihr Gesicht, dann trat sie auf das Bett zu und legte sich hin, während Mark wieder neben ihr Platz nahm und ihre Hand hielt. Das war wohl das Einzige, was er für sie tun konnte. Hanna kniete sich vor Peggy und untersuchte mit geübten Handgriffen den Fortschritt der Geburt.
>>Der Muttermund steht auf 6 Zentimetern. << sagte sie. >>Und das heißt?<< fragte Mark angespannt, Hanna seufzte. >>Drei bis vier fehlen noch. << - >>Nein!<< rief Peggy. >>Nein, nie im Leben! Das schaffe ich nicht, bitte!<<  Erneut rannen ihr die Tränen über die Wangen und Mark brach es das Herz, sie so zu sehen. >>Hanna, kannst du ihr nicht irgendwas geben? Schmerzmittel, oder so? Sie ist völlig fertig.<< - >>Sie hat schon viel an Schmerzmitteln bekommen. << wandte Hanna besorgt ein und warf einen Blick in Peggys Akte und dann auf Peggy selber. Ja, sie war fertig! Und sie hatte trotzdem noch einiges vor sich. Schließlich fasste Hanna sich ein Herz, beugte sich über Peggy und strich ihr über die Wange. >>Ich mache dir einen Vorschlag: ich kann dir für den Moment Wehenhemmer geben. Dann hören sie kurzzeitig auf und du kannst ein bisschen Kraft sammeln, okay? Aber die Wehen kommen wieder und die musst du dann durchstehen!<< - >>Ist mir egal. << flüsterte Peggy schwach. >>Ist mir ganz egal. Gib mir jetzt irgendwas, damit das aufhört!<< Hanna nickte, sah kurz zu Mark, der leichenblass geworden war. >>Ich bespreche mit kurz mit der Ärztin. Gib ihr mal etwas zu trinken. << Hanna verließ den Raum und Mark griff nach dem Wasserglas, das auf dem kleinen Tisch neben dem Bett stand.


>>Wie spät ist es?<< flüsterte Peggy, ihre Stimme war kaum hörbar. Mark hob den Kopf und schaute auf die Uhr. >>Viertel nach 2. << antwortete er und strich Peggy sanft über die Haare. Sie hatte die Spritze mit dem Wehenhemmer bekommen, die Schmerzen waren weniger geworden und jetzt lag Peggy da und kämpfte gegen den Schlaf. Sie war müde! So unsagbar müde! Wie gerne wäre sie jetzt einfach eingeschlafen!
>>Du musst Sascha anrufen. << sagte sie schwach. >>Sag ihm, dass es noch dauern kann! << - >>Nein, ich will dich nicht alleine
lassen. << wehrte Mark ab, doch Peggy drückte seine Hand. >>Ruf ihn an. Und meine Eltern auch. Im Augenblick komme ich klar, wirklich. Aber sag ihnen, dass sie nicht kommen brauchen, ja? Ich will das mit dir alleine schaffen!<< Unschlüssig sah Mark Peggy an. Und was, wenn in den zwei Minuten, in denen er telefonierte, die Wehen zurückkommen würden? Andererseits hatte sie recht. Wenigstens Frank und Natascha sollten über den Stand der Dinge Bescheid wissen. Er erhob sich und küsste sie flüchtig. >>Ich beeile mich. << Peggy nickte und sah ihm nach, als er aus dem Raum ging.
Auf dem Flur zog Mark sein Handy hervor und wählte zuerst Saschas Nummer. Während er den Freizeichen lauschte trat er an das Fenster und blickte nach draußen, in eine wunderschöne, sternenklare Nacht. Die Stadt schlief, nur vereinzelt schienen Lichter. Schlaf! Ja, das wäre jetzt schön! Aber noch schöner war es, dass heute Nacht endlich sein Kind auf die Welt kommen würde…
>>Mark! Wie sieht’s aus? Wie geht es ihr, wie weit ist sie?<< hörte Mark da Saschas aufgeregte Stimme aus dem Handy und fasste knapp die Ereignisse der letzten Stunden zusammen.
>>Momentan kann sie sich ausruhen, weil sie diese Spritze bekommen hat. Ich hab keine Ahnung, wann es weitergeht.<< schloss er und Sascha atmete tief aus. >>Ganz schön heftig.<<- >>Das kannst du laut sagen! Hanna meinte, es könnte noch einige Stunden dauern und Peggy ist völlig fertig! Sie kämpft sich da echt durch, aber ich hab ein bisschen Angst um sie. << ->>Soll ich vorbeikommen? Du könntest ja auch etwas Unterstützung gebrauchen. << Mark lächelte. Sascha war wirklich ein guter Freund, der beste! Aber er verneinte. >>Danke, aber bleib lieber da und ich rufe dich an, falls wir noch irgendetwas brauchen, oder so. Ich muss jetzt noch schnell Peggys Eltern anrufen und dann will ich wieder zu ihr. <<->>Klar. Hey,ich drück euch die Daumen! Grüß Peggy von mir, sie schafft das!<< ->>Mach ich. Bis dann, Sascha!<<
Auch Natascha, mit der Mark wenig später sprach, wollte natürlich sofort in die Klinik kommen und nur mit Mühe und Not konnte er sie davon überzeugen, es bleiben zu lassen. Immerhin hatte Peggy ihn darum gebeten, auch wenn er das wohlweißlich für sich behielt. Aber er versprach, sich sofort zu melden, wenn alles überstanden war. Mark legte auf und schloss kurz die Augen. Wenn es doch nur schon so weit wäre!
Er ging zurück zu Peggy, das Bild, das sich ihm bot war unverändert. >>Was haben sie gesagt?<< fragte sie leise und nahm seine Hand, als er sich wieder zu ihr setzte. >>Deine Mutter wollte sofort hier her. Ich hatte Mühe, sie davon abzuhalten. Gut möglich, dass sie trotzdem noch kommt, so entschlossen und aufgeregt, wie sie klang. << antwortete Mark und Peggy grinste. >>Ja, so ist
sie. << - >>Und Sascha ist gedanklich auch bei uns. Liebe Grüße!<< Peggy seufzte und kämpfte gegen die neuerlichen Tränen an, die sie in ihrem Hals spürte. Irgendwie wurde ihr das alles gerade zu viel! Viel zu viel!
>>Ich hab solche Angst, dass was passiert!<< flüsterte sie, Mark kam ihr näher und küsste sie sanft auf die Lippen. >>Quatsch. Was soll denn passieren?<< - >>Ich weiß nicht, irgendwie habe ich ein ganz komisches Gefühl. << ->>Mach dir keine Sorgen. Die Ärztin ist da, Hanna ist da und ich bin’s auch! Alles wird gut!<< Er küsste sie erneut, aber er musste zugeben, dass auch er Angst bekam, wenn er an die kommenden Stunden dachte, denn die würden noch einmal alles abverlangen!


>>Finger weg!<< schrie Peggy, als Hanna zu ihr kam und die Hand auf ihren Bauch legen wollte. >>Ich weiß, das ist unangenehm, aber ich muss dich untersuchen. << erwiderte Hanna eindringlich, doch Peggy funkelte sie warnend an. Es war inzwischen kurz nach halb 4 und die Wehen waren wieder da! Und sie waren dreimal so heftig, wie die von vorhin! Nein, sie konnte jetzt keine Berührung auf ihrem Bauch ertragen! Sie konnte überhaupt nichts mehr ertragen, nichts! Sie war müde und sie war bis auf’s Blut gereizt. Momentan hätte sie alles und jeden einfach nur anschreien können!
>>Peggy, ich weiß, dass das schmerzhaft ist, aber es muss sein. << erklärte Hanna noch einmal und obwohl Peggy sich weiterhin wehrte, tastete sie ihren Bauch ab. Und Peggy biss die Zähne zusammen und klammerte sich an Marks Hand, der nach wie vor neben ihr saß und sich einer Ohnmacht nahe fühlte! Erneut schrie Peggy auf, erneut hatte eine Wehe ihren Körper durchschüttelt. Mittlerweile kamen sie ziemlich regelmäßig. Sie bildete es sich nicht ein, es wurde wirklich immer schlimmer, die Abstände immer kürzer und ihre Kraft immer weniger! Wie sollte sie das bloß durchstehen?
>>Ok, bei der nächsten Wehe kannst du versuchen,
mitzuarbeiten. << sagte Hanna und stellte Peggys Beine auf. Mark bemerkte das Zittern ihrer Hand und ihres ganzen Körpers. >>Wieso zittert sie denn so?<< fragte er ängstlich, doch die Hebamme lächelte beruhigend. >>Das ist die Anstrengung, die Übermüdung, die letzten Kräfte. Das ist völlig normal! << - >>Letzte Kräfte?<< rief Peggy aufgebracht. >>Ich habe gar keine Kräfte mehr! Ich kann nicht mehr und will nicht mehr und ich werde auch nicht mitarbeiten, wenn die nächste Wehe kommt, klar? << - >>Du wirst es müssen. << - >>Habt ihr diese scheiß Schmerzen, oder ich? Ich muss gar nichts!<< Mark sah Hanna beunruhigt an. Was, wenn Peggy wirklich aufgab, wenn sie wirklich überhaupt nichts mehr machte? Oh Gott, bitte nicht!
Aber Hanna blieb auch jetzt souverän genug, um mit der Situation umzugehen. Sie beugte sich über Peggy und sah sie an.
>>Dein Kind will auf die Welt. Und zwar jetzt! Und du willst es doch möglichst bald im Arm halten, oder? Dafür musst du was tun! Du musst euch beiden helfen. << Hanna sprach so ruhig und dennoch so eindringlich, dass Mark ihr wie gebannt zuhörte. Wow, sie verstand ihren Beruf wirklich! Und er hatte den Eindruck, dass auch Peggy ein ganz klein wenig ruhiger wurde, zu mindest äußerlich.
Da schrie sie ein weiteres Mal auf, noch heftiger, als zuvor und Hanna sprang auf und kniete sich wieder vor sie. >>Pressen, Peggy! Komm schon!<< rief sie und Peggy versuchte es, doch es ging nicht! Es ging einfach nicht! Aus, Schluss, Vorbei! >>Hanna, ich kann nicht!<< - >>Und wie du kannst!<< erwiderte Hanna und zog mit einer raschen Bewegung das kleine Telefon aus ihrer Kitteltasche, um die Ärztin zu informieren, dass es nun auf den Endspurt zuging.
>>Los jetzt, nochmal!<< forderte Hanna sie auf, Peggy wartete zitternd, bis die nächste Wehe in all ihrer Heftigkeit kam und hielt die Luft an, als sie zu pressen begann. Es tat so unfassbar weh! Nie zuvor hatte sie solche Schmerzen gehabt, nie zuvor hatte sie sich so gequält gefühlt, nie zuvor so hilflos! >>Ja super, weiter, weiter, weiter!<< hörte sie Hannas Stimme wie durch einen dichten Schleier von weit weg zu ihr sprechen! Wieder eine Wehe, wieder das Pressen! Sie schloss die Augen, hörte sich selber schreien und fand es furchtbar! >>Komm Süße, du hast es bald geschafft! << flüsterte Mark ihr ins Ohr, doch auch seine Worte kamen nur halb bei ihr an. Sie fühlte einen merkwürdigen Druck im Unterleib und eben dieses Ziehen, diesen Schmerz, der sie fast umzubringen schien! Es war, als stünde sie außerhalb ihres Körpers, als wäre sie kaum richtig bei sich und doch klar genug, um alles mitzubekommen! >>Und atmen, Peggy! Ganz tief in den Bauch!<< Peggy öffnete die Augen und erkannte die Ärztin vor sich. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie hereingekommen war. Sie sah das Licht, das von den Wänden strahlte und sie blendete, sie sah Hanna und Mark, fühlte den Schweiß auf der Stirn, die trockene Zunge an ihrem Gaumen … und dann wieder nichts als Schmerz! >>Komm, noch ein, zwei Mal, dann ist es da, Peggy! Komm schon!<< rief Hanna. Und Peggy wusste selber nicht, wieso, doch von irgendwo her fand sie die letzten, die allerletzten Kräfte in ihrem Körper, die es ihr ermöglichten, durchzuhalten. Aber es tat weh! So unfassbar, unbeschreiblich weh! Niemals würde sie diese Hölle vergessen können, da war sie sich sicher!
Aber plötzlich spürte sie, wie Mark ihre Hand drückte. >>Es ist da!<< hörte sie ihn mit zitternde Stimme flüstern. >>Peggy, ich sehe es, es ist da!<<
Und noch bevor sie wieder richtig Luft geholt hatte, wurde ihr von Hanna auf einmal ein winziges, schreiendes, blutverschmiertes und dennoch wunderschönes Wesen auf die Brust gelegt! Peggy starrte es an und wusste kaum, wie ihr geschah, als sie ihre Arme um das kleine Etwas schloss, das die Augen fest zusammengekniffen hatte und wie am Spieß brüllte. So, wie sie es bis vor wenigen Sekunden auch noch getan hatte.
Die Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sie irgendetwas dagegen hätte tun können, oder wollen. Ein Baby! Ein echtes, lebendiges Baby! Ihr Baby! Ihr Baby war geboren! Völlig fassungslos blickte sie zu Mark auf und lächelte, als sie auch bei ihm die Tränen in den Augen glitzern sah. Sie sahen sich an, sagten nichts, es gab nichts zu sagen, nur zu fühlen…nur zu genießen.
Peggy schaute zurück auf dieses wundervolle Leben in ihrem Arm. >>Hallo, meine kleine Prinzessin! << flüsterte sie ehrfürchtig und schluchzte erneut auf. >>Willkommen auf der Welt!<< - >>04:15 Uhr. << sagte Hanna leise. >>Herzlichen Glückwunsch euch beiden! Eine zauberhafte junge Dame habt ihr da bekommen. <<< Sie zwinkerte. >>Und? Verratet ihr mit denn jetzt, welchen Namen ich in die Akte eintragen darf?<< Peggy und Mark lächelten sich an und nickten. Und genau zeitgleich lüfteten sie das Geheimnis: >>Emelie-Sophie. <<