Die Nachhilfestunde 84: bergauf

Die restliche Woche verbrachte Peggy fast ausschließlich auf dem Sofa. Sie merkte erst jetzt, wie sehr sie die ganze Geschichte mitgenommen hatte und da sie beinah keine Nacht mehr durchschlafen konnte, war es ihr nur recht, sich tagsüber ein wenig ausruhen zu können. Zum Glück hatte sie noch immer Semesterferien und die Uni saß ihr somit nicht allzu sehr im Nacken! Mark hatte es geschafft, sich einige Tage frei zu schaufeln, um ganz für sie da sein zu können, auch wenn er langsam immer weniger wusste, was er noch für sie tun konnte. Auch heute Vormittag lag Peggy auf der Couch, den Kopf in seinen Schoß gebettet und die Knie dicht an ihren Körper herangezogen. Sie schauten nun schon die dritte Serie in zwei Tagen. Mark ließ seine Finger langsam durch ihre Haare gleiten und konnte sich nur halb auf das Seriengeschehen konzentrieren. Allmählich wurde ihm Peggys Zustand unheimlich.
Sie drehte sich auf den Rücken und sah ihn müde an, Mark beugte sich vorsichtig zu ihr hinab und gab ihr einen kleinen Kuss. Er zögerte, ihr seine Gedanken mitzuteilen, tat es letztendlich aber doch. >>Vielleicht solltest du mal wieder ein bisschen an die frische Luft gehen. Du warst seit Tagen nicht mehr draußen!<< Peggy schüttelte den Kopf und kauerte sich noch enger zusammen. Ihr war kalt, trotz der warmen Decke, die sie um ihren Körper geschlungen hatte. Mark schob sie sanft von sich herunter und sah sie an. >>Wollen wir ein Stück spazieren gehen?<< - >>Nein. <<  - >>Oder in die Stadt? Ein bisschen shoppen. << Auch dieser Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe. Peggy war anscheinend zu nichts zu überreden. >>Es hilft dir nicht, wenn du dich verkriechst. << versuchte er es weiter, doch Peggy erwiderte nur stumm seinen Blick. Tief in ihrem Inneren wusste sie das auch, aber sie hatte einfach keine Lust, sich aufzuraffen, sich fertig zu machen und sich der Welt zu zeigen. Dabei war es so schön draußen, die Luft strahlte gerade zu. Dennoch, am liebsten wäre sie den ganzen Tag unerkannt geblieben. Mark seufzte resigniert und sah sie ratlos an. Es hatte wohl keinen Sinn, sie weiter zu überreden zu versuchen.
>>Okay. Dann fahr ich schnell einkaufen, ja? Ich brauche bestimmt nicht lange. << Peggy sah ihm zu, wie er seine Sachen zusammensuchte, sein Handy, Schlüssel und das Portemonnaie einsteckte. >>Bringst du mir heiße Schokolade mit?<< bat sie, Mark drehte sich zu ihr um und lächelte. Heiße Schokolade, Peggys liebster Tröster und Seelenwärmer! >>Na klar. <<
Wenig später war sie allein, schaltete den Fernseher aus und sah sich ein wenig unschlüssig um. Müde fuhr sie sich mit den Händen durch das Gesicht. Ihr war klar, dass das nicht ewig so weitergehen konnte, dass sie sich irgendwann wieder zusammennehmen und in den Alltag zurückfinden musste. Auch dass Mark ihr, was Emelie anging so den Rücken freihielt war nicht selbstverständlich und sie durfte diese Gutmütigkeit nicht allzu lange strapazieren! Kurz entschlossen stand sie auf. Der Haushalt war in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt worden und vielleicht lenkte sie das Aufräumen ja ein wenig ab. Sie griff nach ihren Kopfhörern, stöpselte sie ein und ließ ihre aktuelle Playlist laufen, während sie sich dem riesigen Wäscheberg widmete und ein Stück nach dem anderen zusammenlegte. Und es klappte, die monotone Tätigkeit gemischt mit ihren Lieblingsliedern war genau das Richtige, um ihr Gedankenkarussell zu unterbrechen. Sie wandte sich um und zuckte ein wenig zusammen, als sie unvermittelt in Saschas Gesicht blickte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er hereingekommen war. >>Sorry, ich dachte, du hättest mich gehört. << entschuldigte er sich prompt, Peggy zog die Kopfhörer aus den Ohren, die Musik schallte aus ihnen heraus. >>Kann ich mir mal euren Mixer leihen? Meiner tut’s mal wieder nicht. << - >>Du weißt ja, wo er steht. << erwiderte Peggy und deutete mit dem Kopf in Richtung Küche, aus der Sascha wenig später wieder zurückkehrte, den Standmixer unter dem Arm. Sicher probierte er mal wieder irgendwelche neuen Proteinshakes aus. Peggy bemerkte, wie er unsicher stehen blieb, während sie noch immer mit den Wäschestücken beschäftigt war.
>>Wie geht’s dir?<< fragte Sascha da unerwartet, Peggy hob die Schultern. >>Ging schon mal besser. Und Annika?<< - >>So lala. << - >>Grüß sie ganz
lieb. << lächelte Peggy und da fiel ihr ein, dass das das erste Mal war, dass sie und Sascha wieder miteinander ins Gespräch gekommen waren, seit dem sie von seiner Beziehung mit Annika erfahren hatte. Es war fast alles wie vorher, fast so, als sei nie etwas passiert. Es war fast alles normal. Und Normalität konnte sie gerade gut gebrauchen.
>>Sascha?<< Schnell hielt sie ihn auf, als er sich zum Gehen wandte. >>Das ist alles ziemlich bescheuert, oder? Ich meine unser Streit. << Sascha presste die Lippen zusammen und nickte zögernd. >>Kann sein. << - >>Es tut mir leid, dass ich so ausgetickt bin. Das war echt blöd von
mir. << - >>Mir tut’s auch leid. Dass wir dir das alles verschwiegen haben und ich dir so unschöne Dinge an den Kopf geworfen habe. << Er trat ein wenig auf sie zu. >>Können wir bitte wieder normal miteinander umgehen? Du fehlst mir! << Peggy lächelte, dankbar für dieses offensichtliche Eingeständnis. Er fehlte ihr auch, und es war mittlerweile einfach nur noch anstrengend, ihm aus dem Weg zu gehen. >>Sehr gern!<< antwortete sie und drückte ihn an sich. >>Ich meine es wirklich ernst mit Annika. << hörte sie ihn sagen. >>Sie ist keine von vielen für mich. Aber ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst. << - >>Ich hasse es, wenn meine beste Freundin verletzt
wird. << erklärte Peggy. >>Bitte tu ihr nicht weh! Sie ist ganz schön verschossen in dich! << - >>Ach wirklich?<< Sascha grinste erfreut und Peggy verdrehte die Augen. >>Hab ich nie gesagt, verstanden? Pass gut auf sie auf. Und wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, bekommst du es mit mir zu tun!<< - >>Darauf will ich es lieber nicht ankommen lassen. << spielte Sascha den ängstlichen und trat den Rückzug an. Grinsend sah Peggy ihm nach. Sie spürte, dass sie tatsächlich ihren Frieden mit der Situation gemacht hatte. Und auch diese Versöhnung half ihr, sich ein klein wenig besser zu fühlen!
Später berichtete sie Mark von ihrer Unterredung mit Sascha und auch er war sichtlich erleichtert. Es war ziemlich unschön gewesen, zwischen ihm und Peggy zu stehen und die beiden im Streit zu wissen. Aber nun schien es ganz allmählich bergauf zu gehen, denn Peggy wirkte schon wieder ein bisschen fröhlicher als vorhin. Gedankenverloren sah er ihr zu, wie sie ihren heißen Kakao schlürfte. Selbst dabei sah sie umwerfend aus und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es überhaupt etwas gab, bei dem sie keine gute Figur machte. Ihre schlanken Finger hatten die Tasse fest umklammert und der Ring klackerte unregelmäßig gegen das Porzellan. Ein Geräusch, das ihm direkt ins Herz ging! Es hörte sich toll an! Peggy bemerkte seinen Blick und sah auf.
>>Was ist?<< - >>Nichts. Ich schau dich nur an. << - >>Lieber nicht. Ich sehe schlimm aus. << fand Peggy, immerhin hatte sie sich überhaupt nicht zurecht gemacht, nicht geschminkt, die Haare nur flüchtig durchgekämmt. Mark schüttelte den Kopf, stand auf und zog sie von ihrem Platz hoch. Vorsichtig berührte er mit dem Finger die kleine Wunde an ihrer Lippe, die zum Glück schon fast verschwunden war und auch das Veilchen unter ihrem Auge war kaum noch zu sehen. Die äußeren Spuren verblassten nach und nach, hoffentlich würde auch ihr Inneres bald heilen.
>>Ich finde dich wunderschön!<< - >>Und ich finde, dass du einen Knall
hast. << lächelte Peggy, ehe sie einen unendlich sanften Kuss auf ihren Lippen spürte, der sämtliche Knochen in ihrem Körper butterweich werden ließ! Sie schmiegte sich an ihn, erwiderte den Kuss, mehr und mehr ihrer Hingabe verfallen! Mark brauchte all seinen Willen, um nicht augenblicklich über sie herzufallen. Nach allem was sie hinter sich hatte, wusste er nicht einmal, ob sie überhaupt mehr zulassen würde, denn er hatte bemerkt, dass sie in der letzten Zeit ziemlich zurückhaltend war, was Zärtlichkeiten anging. Vorsichtig legte er seine Hände um ihre Taille und zog sie fester an sich heran, ihr schwerer Atem dicht an seinem Mund war wie ein stummes Einverständnis und ließ sein Herz noch schneller schlagen. Er hatte all das so vermisst! Dennoch hielt er inne und sah sie an.
>>Ich will dir nicht weh tun. << flüsterte er besorgt, ihm kamen die blauen Flecken wieder in den Sinn, die nach wie vor auf ihrer Haut prangten, wenn auch deutlich blasser und kleiner als noch vor ein paar Tagen. Peggy schüttelte den Kopf. >>Tust du nicht. << versicherte sie ihm und küsste ihn mit genau der gleichen Sanftheit wie er es eben getan hatte. Mark schloss die Augen, spürte ihre zaghafte Zunge an seiner. Sie war so sexy! Und er war verloren!

Es dauerte zwar noch ein paar Tage, aber irgendwann hatte Peggy das Gefühl, diese unschönen Erlebnisse zu mindest zum größten Teil überwunden zu haben. Mark und sie hatten beinah jede Minute zusammen verbracht und er hatte sich so gut um sie gekümmert, dass sie gar nicht anders konnte, als sich wohlzufühlen. Jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen abgelesen. >>Du musst aufpassen, dass du mich nicht zu sehr verwöhnst. << hatte sie gesagt. >>An den 24 Stunden rundum Service könnte ich mich gewöhnen!<< -
>>Jederzeit. << war seine Antwort und Peggy verlor sich in seinem wundervollen Lächeln.
Heute war der erste Abend, an dem sie sich gut genug fühlte, um mal wieder vor die Tür zu gehen. Mark und sie hatten sich mit Sascha und Annika zu einem Abendessen verabredet. >>Pärchenabend!<< hatte Sascha gejubelt, doch diesen Begriff fanden sowohl Peggy als auch alle anderen so abscheulich, dass er ihn danach nie wieder verwendet hatte.
Bis zu dem Restaurant, das sie ausgesucht hatten, war es nicht weit. Peggy und Mark schlenderten Hand in Hand die Straße entlang und sogar Emelie durfte heute ausnahmsweise mal etwas länger aufbleiben und sie begleiten, was die Kleine mit sichtlicher Freude aufnahm. Mark sah auf die Uhr. >>Ich glaube, beeilen müssen wir uns nicht. Sascha war noch nie der Pünktlichste. << - >>Oh, dann wird er mit Annika spätestens in diesem Punkt Krach kriegen. << erwiderte Peggy amüsiert. >>Sie hasst es, zu spät zu kommen!<< Mark sollte recht behalten: ihre Freunde trafen natürlich nicht zum vereinbarten Zeitpunkt am Lokal ein, sodass er und Peggy gezwungen waren abzuwarten. Ein wenig ungeduldig trat Mark von einem Fuß auf den anderen und sah die Straße hinab. Jetzt konnte es aber wirklich nicht mehr lange dauern! Das hoffte er jedenfalls, denn sein Magen knurrte und diese Warterei machte es nicht gerade besser. Vielleicht sollten sie schon hineingehen und wenigstens die Getränke bestellen. In diesem Moment erstarrte er, als er eine Person unweit von sich auf der anderen Straßenseite erkannte. Trotz der einsetzenden Dämmerung war er sich sicher, die Statur ließ keinen Zweifel zu. Hektisch drehte er sich zu Peggy, die mit Emelie auf dem Arm ein wenig abseits stand und ebenso erschrocken aussah, während sie in die selbe Richtung starrte. Auch sie hatte ihn sofort erkannt: Timo!
Er schien die beiden ebenfalls gesehen zu haben, denn er blieb für einen Moment stehen, schien zunächst überrascht, dann wieder völlig gelassen, und schlenderte nun langsam auf sie zu. >>Scheiße. << wisperte Peggy und drückte ihre Tochter fester an sich. Augenblicklich kehrte alle Anspannung und alle mühsam abgelegte Angst der vergangenen Tage zurück. Und sie dankte dem Himmel dafür, dass sie nicht alleine war!
Mark hatte sich in Sekundenschnelle vor sie gestellt und sah Timo nun merkwürdig ruhig entgegen, der wenig später dicht an sie herantrat. Er bedachte Mark nur mit einem abschätzigen Blick, ehe er sich direkt an Peggy wandte. >>So sieht man sich wieder! Heute sogar mit Töchterchen, wie nett. << Er streckte seine Hand aus, um Emelie über den Kopf zu streicheln, doch soweit kam er gar nicht. Mark hielt ihn auf und funkelte ihn warnend an. >>Denk nicht mal dran, sie anzufassen!<< - >>Schon gut. Kein Stress. << wich Timo ein wenig zurück und grinste Peggy abermals frech entgegen. >>Dein Beschützer weicht wohl nicht mehr von deiner Seite, hm?<< Doch Peggy war unfähig, auch nur irgendeine Antwort vorzubringen. Sie spürte ihr Zittern und betete inständig, dass Timo einfach wieder abziehen und sie in Ruhe lassen würde. In Marks Augen erkannte sie noch immer dieses gefährliche Glitzern und sie konnte seine Anspannung förmlich fühlen. Allerdings wirkte Timo nicht weniger kampflustig, als er abermals einen Schritt näher trat. >>Ich hab ne Anzeige am Hals!<< sagte er leise, sein stechender Blick ging Peggy durch und durch. >>Und ich glaube auch zu wissen, wem ich das zu verdanken habe. << Er machte einen Satz nach vorne und Peggy wich zu Tode erschrocken zurück, doch Mark hatte die Situation früher erkannt und drängte Timo mit einem kräftigen Stoß von ihr weg. >>Hau ab!<< - >>Deine elende Schlampe hat mich bei den Bullen verpfiffen. << Seine Worte, die er in dieser abfälligen Stimme aussprach trieben Mark vor Hass die Tränen in die Augen! >>Sie wird dafür bezahlen, genau wie Annika! << - >>Du lässt die beiden in Ruhe, verstanden?<< Aber Timo lachte nur spöttisch und warf Peggy einen Blick zu, die wie eingefroren dastand und alles mitbekam. >>Ich krieg euch noch! Und dann bringe ich das zuende, was ich angefangen habe. <<
Mark schluckte. Es war wie ein Tritt in den Magen, wie ein Schlag ins Gesicht! Er spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog, wie unbändige Wut in ihm aufstieg. Und er spürte, wie sich seine Hand automatisch zur Faust ballte! Doch da drang ein unverständliches Gebrabbel an sein Ohr. Emelie! Nein, das sollte sie nicht mit ansehen müssen. Mit aller Macht verdrängte er seine Emotionen und versuchte, irgendwie ruhig zu bleiben. >>Verpiss dich endlich!<< raunte er gefährlich leise und es schien Wirkung zu haben. Timo trat ein paar Schritte zurück, ließ Peggy dabei jedoch nicht aus den Augen. >>Ciao. Bis bald!<< warf er ihr einen Handkuss zu, ehe er in einer Seitenstraße verschwand. Mark schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Herz raste, so sehr hatte es ihn Kraft gekostet! Dann sah er zu Peggy. Sie war leichenblass geworden und hatte Emelie noch immer wie ein Schutzschild ansich gepresst. Ihr Atem ging schnell und auf ihrer Stirn traten Schweißperlen hervor. Sie musste unglaubliche Angst gehabt haben.
>>Alles okay?<< fragte Mark besorgt und zog sie in seine Arme. Peggy nickte unsicher und drückte sich an ihn. Was wäre nur passiert, wenn sie Timo alleine begegnet wäre?
>>Danke. << flüsterte sie mit trockenem Mund, Mark streichelte ihr beruhigend über den Rücken und sah sich noch einmal um, doch Timo hatte tatsächlich das Weite gesucht.

>>Er bringt zuende, was er angefangen hat? Was soll das heißen?<< fragte Sascha irritiert, als er wenig später gemeinsam mit Annika, Peggy und Mark an einem der Restauranttische saß. Die beiden hatten soeben von ihrer Begegnung mit Timo berichtet und ihm war fast das Herz stehengeblieben. Zunächst hatten sie es auch für besser gefunden, den Abend sausen zu lassen, doch Peggy hatte darauf bestanden, dass alles genau so umgesetzt werden würde, wie sie es geplant hatten. Und schließlich hatte sie gewonnen!
>>Na was wohl?!<< Wütend griff Mark nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Ihm war völlig klar, was Timo damit sagen wollte, nämlich, dass er wieder versuchen würde, sich an Annika und Peggy für was auch immer zu rächen! Seine gekränkte Männlichkeit schien grenzenlos! >>Mein Gott, ist das alles ein
Alptraum. << schüttelte Annika den Kopf. Auch sie war mehr als erschrocken gewesen, als sie alles erfahren hatte. Wären sie doch nur pünktlich gewesen! >>Wieso ist der überhaupt noch auf freiem Fuß? Die Anzeige ist doch raus. << - >>Du kennst doch Behörden. Sowas dauert. << sagte Peggy. >>Und wir sind nicht der einzige Fall, den die zu bearbeiten haben. Und sicherlich auch nicht der schwerwiegendste. << - >>Trotzdem! Was ist, wenn er wirklich immer wieder kommt? Er weiß doch, wo ich wohne… << Sascha legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. >>Wenn du willst, kannst du gerne bei mir bleiben. Die Adresse kennt er zwar auch, aber dann bist du wenigstens nicht alleine. << Annika lächelte ihm dankbar zu, ließ das Angebot jedoch vorerst unkommentiert. Peggy hob Emelie aus ihrem Kinderstuhl auf ihren Schoß. >>Also ich fände das cool! Dann hat Emelie immer genug Leute, die sie bespaßen! <<
Als hätte sie es verstanden klatschte Emelie begeistert in die Hände und strahlte Sascha und Annika an. Sie lachten, Mark jedoch war noch nicht wieder zu Späßen zu Mute. Ihn beschäftigte das Aufeinandertreffen mit Timo noch immer. Nie zuvor hatte er einem Menschen gegenüber so einen Hass verspürt, war nie zuvor so unglaublich wütend gewesen. Und nie zuvor hatte er den Gedanken gehabt, zuzuschlagen! Vorhin jedoch hätte nicht viel dazu gefehlt und wären Emelie und Peggy nicht dabei gewesen, er hätte nicht gewusst, ob er sich hätte beherrschen können. Er warf ihr einen unauffälligen Blick zu. Gott sei Dank schien sie nicht mehr allzu mitgenommen, ihre Fröhlichkeit wirkte echt. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste gewesen, den Abend so zu verbringen, anstatt wieder nach Hause zu gehen und weiterzugrübeln. Sie war eine sehr starke, intelligente und bedachte Frau! Seine Frau! Bald jedenfalls, und er würde sie für den Rest seines Lebens beschützen!

Einige Tage später saß Peggy nach getätigten Einkäufen vor einem großen Eiskaffee in der Stadt und genoss die letzten vorlesungsfreien Tage. Die Semesterferien neigten sich dem Ende entgegen und bald würde sie der Lernstress unweigerlich eingeholt haben! Allzu viel Zeit würde sie jedoch nicht in Hörsälen und mit Vorträgen verbringen, denn wie sie aus einer Rundmail ihrer Fakultät erfahren hatte, würde im kommenden Semester ein Studienpraktikum anstehen, um unter Beachtung einer Forschungsfrage, erste Erfahrungen des psychologischen Alltags zu beleuchten. Peggy fand das unheimlich spannend und recherchierte schon jetzt, welche Praxen für so etwas in Frage kamen. Sie nippte an ihrem Getränk, während sie die Vorschläge überflog, die das Internet soeben ausgespuckt hatte. Ganz oben stand natürlich die Praxis von Fr. Dr. Graf, bei der sie damals vor ihrem Studium schon einige Wochen als Praktikantin verbracht hatte. Doch nach der Geschichte mit Sina und ihrem eher unrühmlichen Abgang kam dieser Ort wohl eher nicht in Frage. Peggy wischte weiter über das Handydisplay, als plötzlich ein Schatten auf sie herabfiel. Sie schob ihre Sonnenbrille ins Haar und schaute erfreut auf, als sie ihren Vater erkannte.
>>Hey, was machst du denn hier?<< - >>Meinen freien Tag genießen. << erklärte dieser, gab seiner Tochter einen liebevollen Kuss auf die Wange und zog schließlich einen Stuhl heran, um sich zu setzen. >>Und du? Keine Uni heute?<< - >>Ab Montag wieder. Noch sind
Ferien. <<- >>Verstehe. Emelie ist im Kindergarten?<< - >>Und Mark in der Schule. << nickte Peggy und bot ihrem Vater einen Schluck aus ihrem Glas an, doch er lehnte ab. Dann sah er sie lange an. >>Wie geht’s dir?<< fragte er sanft, er hatte vor Kurzem von Peggys und Annikas Erlebnissen erfahren und war außer sich vor Wut und Sorge gewesen! Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären sie jeden Tag zur Polizei gegangen und dort auch so lange aufgelaufen, bis die Sache mit der Anzeige endlich schneller vorangetrieben worden wäre!
>>Mir geht’s gut, keine Sorge. << versicherte Peggy. >>Mark passt auf mich auf. Ich bin bestens versorgt. << - >>Das will ich hoffen! Du weißt, dass du jederzeit wieder zu uns kommen kannst, sollte dieser Timo vor eurer Wohnung herumlungern. << Peggy nickte, aber sie hoffte, dass das niemals in Frage kommen müsste. Sie könnte sich nicht vorstellen, wieder zu ihren Eltern zu ziehen, jedenfalls nicht dauerhaft. Ihr Leben war an Marks Seite, so einfach war das!
>>Du siehst gut aus, richtig erholt.<< wechselte sie das Thema. >>Scheinbar war es ein schöner Urlaub!<< - >>Es war herrlich! << bekräftigte Frank. >>Deine Mutter ist so braun geworden, ich hingegen eher rot. Die karibische Sonne hatte es wirklich in sich. <<
Karibische Sonne! Peggy stellte sich einen unendlichen weißen Sandstrand, ein kristallklares Meer und tief hängende Palmen vor, die von einem lauen Wind sanft hin und her geschaukelt wurden. Vielleicht wäre das etwas für die Flitterwochen! Es musste wundervoll sein, mit Mark am Wasser entlang zu spazieren, den warmen Sand unter den nackten Füßen und die Sonne direkt im Gesicht …
>>Wo steht dein Auto? Vielleicht können wir ein Stück zusammen gehen. << sagte Frank, doch Peggy schüttelte den Kopf. >>Ich bin zu Fuß. Mark brauchte das Auto heute. << - >>Und deinen Einkauf schleppst du dann so nach Hause? Kommt nicht in Frage. << Frank stand auf und angelte seinen Autoschlüssel aus der Tasche. >>Ich fahre dich. << Sein bestimmender Tonfall machte Peggy klar, dass es wohl wenig Sinn hatte, zu diskutieren. Angesichts der schweren Tasche und dem warmen Wetter war die Aussicht auf eine kurze Fahrt im klimatisierten Wagen ihres Vaters ohnehin zu verlockend. Sie trank rasch den letzten Schluck aus ihrem Glas und erhob sich ebenfalls.

>>Seit wann hast du so viele Spielereien hier drin?<< fragte Peggy erstaunt, als sie wenig später auf dem Beifahrersitz saß und auf dem Touchscreen herumdrückte, das in die vordere Armatur eingelassen war. Es bot wirklich alles: 3D-Straßenkarten, Stauinfo, Internetzugang zum Wetterbericht … eigentlich viel mehr, als nötig war.
>>Seit ich ein neues Navi habe. << erklärte Frank ein wenig stolz, drückte ebenfalls ein paar mal auf dem Bildschirm herum und schon erklangen die Lieder eines Radiosenders in Rundum-Sound. Peggy sah ihn gleichermaßen beeindruckt, wie zweifelnd an. Diese Technik war schon erstaunlich. Ob man das alles aber wirklich brauchte, stand wohl auf einem anderen Blatt Papier. Bald darauf parkte Frank vor der Wohnung und lud den Einkauf aus dem Kofferraum. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er noch nie hier gewesen war. Er kannte ein paar Fotos, doch die Wohnung hatte er selbst noch nie betreten. Wieso eigentlich nicht?
>>Kommst du noch mit rein? << fragte Peggy, als hätte sie seine Gedanken gelesen, er nickte und folgte seiner Tochter durch die Haustür hindurch. Fast schon unsicher blieb er schließlich im Flur stehen und sah sich um. Es wirkte alles kleiner als erwartet.
>>Stell die Tasche einfach hier ab. Danke!<< lächelte Peggy und zog ihre Schuhe von den Füßen. >>Willst du was trinken?<< - >>Ein Wasser, sehr
gerne. << erwiderte er und betrat hinter Peggy die Küche. Auch hier drin fühlte es sich ein wenig beengend an. Alleine, oder auch zu zweit war es vielleicht passend, aber mit einem kleinen Kind…?
>>Sag mal, habt ihr eigentlich genug Platz hier? << fragte er und sah Peggy zu, wie sie zwei Gläser und eine Wasserflasche auf den Tisch stellte. Sie zuckte die Schultern. >>Manchmal ist es schon ein bisschen eng, gerade jetzt, wo Emelie größer wird. Aber das stört uns nicht. << Sie reichte ihrem Vater das Glas und stieß symbolisch mit ihm an. Frank schwieg und nippte an dem Wasser. Früher oder später würden sie definitiv ein Platzproblem bekommen, denn Emelie wuchs tatsächlich immer schneller heran. Die Tür wurde geöffnet und ein Mann betrat wie selbstverständlich die Küche. Peggy begrüßte ihn mit einer freundschaftlichen Umarmung, während Frank ihn ein wenig pikiert musterte. >>Papa, das ist Sascha. Marks bester Freund. Sascha, mein Vater. << - >>Wow, der berühmte Doktor Steinkamp!<< sagte Sascha freundlich und reichte ihm die Hand. >>Freut mich sehr! << - >>Sie wohnen auch hier?<< erwiderte Frank die Begrüßung mit nicht ganz dem selben Enthusiasmus. Sascha lachte. >>Nein, ich wohne oben drüber. Aber ich breche immer mal wieder hier ein und behalte Mark und Peggy ein bisschen im Auge. << Er zwinkerte und wandte sich an Peggy. >>Kannst du Mark schreiben, dass ich ihm die geliehenen 50 Euro hier lasse? Mein Handy ist mal wieder sonst wo und ich muss jetzt zur Arbeit!<< - >>Mach
ich. << versprach Peggy, ließ sich von Sascha leicht auf die Wange küssen und dann war er auch schon wieder verschwunden. Frank hatte die Szene ein wenig erstaunt beobachtet. >>Der kommt dir ja ziemlich nahe!<< - >>Wieso auch nicht?! << Peggy sagte das mit solch einer Unbeschwertheit, als sei es das normalste von der Welt. Für sie war es das wahrscheinlich auch, Frank hingegen musste sich eingestehen, dass er sich Peggys Leben hier immer ein wenig anders, ein wenig ruhiger und geordneter vorgestellt hatte. Und vorallem größer! Kurz entschlossen stellte er sein Glas ab und schaute Peggy fragend an. >>Hast du vielleicht noch etwas Zeit? Ich würde dir gerne etwas zeigen, dazu müssten wir allerdings nochmal ein Stück fahren. << Peggy sah auf die Uhr. Bis Emelies Kita zuende war, dauert es noch gute zwei Stunden und auch Mark wäre bis dahin noch nicht wieder zurück.

Und so fand sie sich bald erneut auf der Beifahrerseite des Autos ihres Vaters wider und versuchte herauszufinden, wohin sie wohl unterwegs waren. Sie hatten den Weg Richtung Innenstadt eingeschlagen, doch die Gegend kam Peggy nicht wirklich bekannt vor. Sie war auf ihrem damaligen Schulweg ein paar Mal hier lang gekommen, ansonsten wirkten die Häuser recht fremd.
>>Verrätst du mir jetzt mal, was ich hier soll?<< wurde Peggy ein wenig ungeduldig, denn bislang hatte ihr Vater keinen Ton verlauten lassen und setzte nun wieder nur dieses geheimnisvolle Grinsen auf. Er wusste genau, wie Peggy es hasste so auf die Folter gespannt zu werden. Besonders wenn sie keine Chance hatte, mehr herauszubekommen. Doch ihr Warten sollte bald ein Ende finden. Er bog in eine kleine Seitenstraße ein und parkte das Auto vor einem freistehenden hellen Gebäude, dessen weiß gestrichene Fassade so sauber war, dass es vermutlich noch nicht allzu lange hier stand. Peggy beugte sich vor und sah aus dem Fenster, nach wie vor ratlos. Frank bedeutete ihr auszusteigen und gemeinsam gingen sie in das Haus hinein, das Treppenhaus hoch, bis in das oberste Stockwerk. Hier zückte ihr Vater einen klimpernden Schlüsselbund und schloss auf, ehe er Peggy durch die Tür in einen weitläufigen Flur schob. Die Wohnung war völlig leer, nirgendwo standen Möbel oder andere Einrichtungsgegenstände. Lediglich in dem Raum ganz rechts konnte Peggy eine großflächige Küchenzeile erahnen. Zögernd tat sie ein paar Schritte, der helle Laminatfußboden musste noch ganz neu sein, jedenfalls glänzte er in der Sonne, die durch die vielen Fenster alles in helles Licht tauchte. Geradeaus befand sich der geräumigste Raum, offenbar das Wohnzimmer, das ebenfalls mit großen Fenstern und einem Balkon aufwartete, von dem aus man einen großartigen Ausblick über die halbe Stadt hatte. Peggy schaute sich um und stieß anerkennend Pfiff aus. >>Nicht schlecht! Aber muss ich mir Sorgen machen, dass Mama und du euch getrennt habt und das nun deine neue Bleibe ist?<< Frank atmete tief durch und trat auf sie zu. Dann schüttelte er den Kopf. >>Nein, das ist nicht meine neue Bleibe. Es ist deine! << Peggy, die bis eben noch über den wirklich großartigen Ausblick gestaunt hatte, starrte nun ihren Vater an, als hätte sie sich verhört. >>Meine?<< - >>Naja, eure! << fügte Frank hinzu und holte abermals tief Luft, ehe er die Bombe platzen ließ. >>Ich hab die Wohnung gekauft, für euch. Für Emelie, Mark und dich. Und ich möchte sie euch gerne schenken. << Gespannt sah er Peggy an und wartete auf ihre Reaktion, doch diese schaute nur stumm und mit großen Augen zurück und war schlicht und einfach sprachlos!