Die Nachhilfestunde 47: Vatergefühle

 

Beinahe außer Atem kamen sie nur wenige Minuten später bei Peggys Elternhaus an. Mark wusste, dass er unterwegs sicherlich das ein oder andere Mal die Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet hatte, doch das interessierte ihn bei dem Gedanken an Emelie nur wenig. Und auch Peggy hatte es nicht schnell genug gehen können, und sie hatte jede rote Ampel und jedes Stoppschild finster angestarrt, die Schuld daran waren, dass sie nicht schneller zu ihrem Kind kam.
Endlich waren sie da! Natascha öffnete ihnen schon die Tür, noch bevor Peggy die Klingel betätigen konnte. Als hätte sie die Sekunden gezählt und bis zu dem Eintreffen der beiden ungeduldig an der Haustür gewartet.
>>Wo ist sie?<< verzichtete Peggy auf jegliche Begrüßung und stürmte an ihrer Mutter vorbei ins Haus. Mark folgte ihr, fand aber immerhin noch den Gedanken, Natascha zu begrüßen.
>>Im Wohnzimmer auf dem Sofa. << antwortete diese und ging ins selbige vorraus, Mark und Peggy hinter ihr her. Als Peggy ihre Tochter erblickte, hätte sie weinen mögen vor Kummer. Dort lag sie und atmete tatsächlich sichtlich angestrengt. Die kleinen Hände waren zu Fäusten geballt, ihre Stirn glänzte vor Schweiß. Auch Mark war es, als zöge jemand ein Messer durch sein Herz. Er schluckte. >>Wie lange geht das schon so?<< wollte er wissen, während Peggy sich neben Emelie kniete und ihr vorsichtig über den Kopf streichelte.
>>Heute morgen hab ich es bemerkt. << antwortete Natascha und ließ sich auf das Sofa sinken. Man sah ihr an, dass sie die ganze Sache mitnahm. Sie sah blass aus. Und, wie Mark nebenbei zu bemerken glaubte, wesentlich älter, als sonst. >>Ich dachte und hoffte, es ginge von alleine wieder weg und wollte euch nicht sofort in Unruhe versetzen, aber es wurde nicht besser. << - >>Du hättest uns sofort bescheid sagen müssen!<< Peggy bedachte ihre Mutter mit einem bitterbösen Blick. Wieso hatte sie nicht gleich etwas gesagt? Dann hätten sie sofort zum Arzt fahren können und Emelie ginge es vielleicht schon wieder besser.
Natascha erwiderte nichts und Peggy beachtete sie nicht weiter. Sie kämpfte gegen die Tränen an, als sie ihre Tochter behutsam auf den Arm hob und ihr leise beruhigende Worte zuflüsterte. Mark setzte sich neben sie und berührte die kleine Hand, die noch immer zusammengepresst war. Auch die Augen waren fest geschlossen. Hatte sie Schmerzen? Wenn ja, er konnte ihr nicht helfen. Und das machte ihn wahnsinnig!
>>Hast du Papa um Rat gefragt?<< wollte Peggy wissen, ihre Mutter verneinte. >>Er weiß noch gar nichts davon. Ich wollte zuerst euch benachrichtigen. << Peggy nickte. Wenigstens etwas! Sie strich über Emelies Wangen.
 >>Sie hat Fieber!<< stellte Peggy erschrocken fest und auch Mark berührte die kleine Stirn: sie war ganz heiß.
>>Wir fahren jetzt ins Krankenhaus. << beschloss er und stand auf. Auch Peggy erhob sich langsam und während sie Emelies Sachen zusammenpackte, blieb Mark bei Natascha, die leichenblass war.  >>Es tut mir so leid. << entschuldigte sie sich, doch Mark wiegelte ab. >>Du hast keine
Schuld. << - >>Wie mans nimmt. << murmelte Peggy, sah ihre Mutter erneut vernichtend an und ging dann zur Tür. >>Soll ich mitkommen?<< bot Natascha an, Peggy schüttelte den Kopf. >>Nein. Ich weiß ja jetzt schon nicht, wie ich dir danken soll!<< - >>Peggy, bitte!<< ermahnte Mark sie und sah sie beschwichtigend an. Sicher, die Situation war schwer. Für alle, und er wusste, dass Peggys Mutterherz gerade blutete, aber Natascha, da war er sich sicher, traf nicht die geringste Schuld an dem schlechten Zustand der Kleinen. Peggy erwiderte nichts, presste die Lippen zusammen und verließ mit Emelie im Kinderwagen das Haus. >>Wir melden uns. << sagte Mark und legte Natascha flüchtig die Hand auf den Arm. Diese nickte nur stumm und hilflos,  und sah zu, wie Mark zu Peggy ins Auto stieg und losfuhr. Sicherlich schneller, als erlaubt.



>>Komm Peggy, setz dich hin. << bat Mark sie nun schon zum dritten Mal, als sie in einem der Behandlungsräume der Ambulanz darauf warteten, dass sich ein Arzt ihrer annahm. Peggy hatte Emelie keine Sekunde vom Arm genommen und lief nun seit ihrer Ankunft wie ein eingesperrtes Tier im Raum hin und her.
>>Kann ich nicht. Ich bin viel zu nervös. << antwortete Peggy und drückte ihre Tochter fester an sich, die sich genauso zeigte, wie vorhin. Ab und an quengelte sie leise vor sich hin, ansonsten hörte man nur die angestrengten Atemzüge.  Und Peggy wurde mit jeder Minute ungehaltener, denn bis auf die Bitte, ein Aufnahmeformular auszufüllen, hatte das Personal noch nichts getan! Und das, obwohl sie bei ihrer Ankunft hier betont hatten, dass es dringend sei.
>>Wie lange dauert das denn noch?<< rief Peggy. >>Wir sind jetzt fast eine Stunde hier, verdammt!<< - >>Ich weiß es nicht. Aber wir machen es nicht besser, wenn wir uns
aufregen. << - >>Und ich weiß nicht, wie du so ruhig bleiben kannst!<< Peggy drehte sich zu Mark um und schüttelte verständnislos den Kopf. >>Es geht um unsere Tochter! Sie ist krank und niemand kümmert sich! Dir scheint das völlig egal zu sein! << - >>Ist es nicht, und das weißt du auch. << erwiderte Mark mit Nachdruck und Peggy atmete tief durch. Ja, natürlich wusste sie das. Sie wusste auch, dass sie ungerecht gewesen war, zu ihm und zu ihrer Mutter. Aber im Augenblick war sie
einfach wahnsinnig vor Sorge!
Mark stand auf, trat auf sie zu und nahm sie in den Arm. >>Es wird alles wieder gut. << murmelt er und Peggy schluckte schwer gegen die Tränen an. Hoffentlich wurde es das!
In dem Moment wurde endlich die Schiebetür des Raumes geöffnet und  eine junge Frau im weißen Kittel trat ein.  >>Guten Abend, Gerlach mein Name. Ich bin die Kinderärztin. << stellte sie sich vor und Peggy und Mark waren noch nie so dankbar gewesen, einer Ärztin zu begegnen. Sie stellten sich ebenfalls vor und als Peggy ihren Nachnamen erwähnte, stutzte die junge Frau.
>>Die Tochter von Dr. Steinkamp?<< fragte sie und Peggy nickte, mühsam um Höflichkeit bemüht. Sie war wirklich nicht zum Plaudern aufgelegt. Dr. Gerlach lächelte. >>Freut mich, Sie mal kennenzulernen.  Was ist denn passiert?<< Peggy schilderte kurz die Ereignisse der vergangenen Stunden und warf dabei immer wieder besorgte Blicke auf ihre Tochter. Die Ärztin hörte aufmerksam zu, nickte und bat darum, Emelie auf die Liege zu legen, die an einer Wand im Raum stand. Peggy folgte ihrer Anweisung, wenn auch ungern. Es war kein schöner Anblick, die Kleine auf dieser riesigen Krankenliege zu sehen. Dr. Gerlach begann ihre Untersuchung und Mark ließ sie nicht aus den Augen. Wenn eine Fremde Hand an seine Tochter legte, war er wachsam, wie ein Luchs. Doch die Ärztin ging äußerst behutsam mit der Kleinen um, berührte sie vorsichtig und sprach dabei leise mit ihr, sodass er sich etwas entspannte. Anscheinend wusste sie, was sie tat. Sie holte ein kleines Stethoskop aus ihrer Tasche, zog Emelies Body ein wenig nach unten und legte ihr den Kopf des Gerätes auf den Rücken. Emelie protestierte lautstark und Peggy bekam eine Gänsehaut, doch sie durfte nicht eingreifen. Je schneller sie sie untersucht hatte, umso schneller konnte Emelie geholfen werden, die noch immer quengelte und dann ein leises Husten von sich gab. Sie spuckte, zäher Schleim lief aus ihrem Mund. Das war zu viel für Peggy! Sie schluchzte auf, trat neben die Liege und wischte vorsichtig den Schleim beiseite.  Mark bemerkte währenddessen den ernsten Gesichtsausdruck der Ärztin, kämpfte seine Furcht so gut es ging nieder und schickte ein Stoßgebet zum Himmel: bitte, bitte, lass es nichts schlimmes sein!
Dr. Gerlach richtete sich auf, verstaute das Stethoskop wieder in ihrer Kitteltasche und holte tief Luft, während Mark und Peggy sie ungeduldig ansahen und sie stumm anflehten, endlich zu sprechen!
>>Zum jetzigen Zeitpunkt deutet alles auf eine Lungenentzündung hin. << brach sie schließlich ihr Schweigen und Peggy erschrak zu Tode. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut! Auch Mark wurde schwindelig bei diesen Worten. >>Sind Sie sicher?<< - >>Es ist nur eine vorläufige Diagnose. Genaueres werde ich erst nach weiteren Tests sagen können, also Blutentnahmen und so weiter. Deswegen wäre es auf jeden Fall angebracht, Ihre Tochter stationär hier zu lassen. Dann können wir das weitere Vorgehen besprechen. << Peggy hörte die Ärztin wie durch einen Schleier sprechen. Lungenentzündung, das war das einzige, was sie deutlich vernommen hatte. Sie wusste, dass das schon bei Erwachsenen gefährlich werden konnte. Und nun sollte dieses kleine Wesen, kaum ein halbes Jahr alt darunter leiden? Sie spürte die Tränen auf ihre Wangen und wischte sie achtlos fort, während Dr. Gerlach weitersprach. >>Ich werde oben auf Station bescheid geben, dass Emelie aufgenommen wird. In der Zwischenzeit können Sie sich vorne am Empfang melden, dort wird man Ihnen sagen, wo im Haus sie untergebracht wird. << Die junge Frau lächelte noch aufmunternd, dann rauschte sie aus dem Raum und ließ Peggy, Mark und die kleine Emelie in der Stille nach dem Sturm zurück. >>Ich will nicht, dass sie hier bleibt. < flüsterte Peggy verzweifelt, Mark blickte ratlos zu ihr zurück. >>Denkst du , ich etwa? << Er schaute Emelie an, die nach wie vor dalag und schwer atmete. In diesem Moment, hätte er alles dafür gegeben, dass das ganze nur ein Alptraum wäre!


Die Blutentnahme, die wenig später noch in der Ambulanz erfolgte, war schrecklich! Als Peggy den jungen Assistenzarzt sah, der auf Dr.Gerlachs Anordnung hin die Blutentnahme durchführen sollte, wurde ihr schlecht vor Angst, er könne etwas falsch machen. Und als sie dann noch die Nadel erblickte, mit der er sich Emelie näherte, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Sie konnte nicht hinsehen und vergrub ihr Gesicht in Marks Schulter, während der Arzt Emelie das Blut abnahm. Sie hörte sie nur wie am Spieß brüllen und konzentrierte sich mit aller Macht auf Marks beruhigendes Streicheln auf ihrem Rücken. Dennoch war es furchtbar!
Irgendwann waren sie auf der Station angekommen, auf der Emelie nun erstmal bleiben sollte. Eine internistische Station, auf der alles furchtbar steril und ungemütlich war. Und auch die Nachtschwester schien alles andere als begeistert zu sein, kurz vor Mitternacht mit einer Aufnahme belästigt zu werden. Und hier sollte sie ihre Kleine lassen? Für Peggy ein Ding der Unmöglichkeit! Doch sie hatte keine Wahl!
Nachdem die Schwester ein Kinderbett neben das große Bett geschoben und die Unterlagen der Ambulanz ansich genommen hatte, ließ sie Mark und Peggy ohne ein weiteres Wort alleine. >>Augen auf bei der Berufswahl.<< murmelte Mark scherzhaft, doch Peggy war nicht nach Späßen zumute. Sie legte Emelie auf das Kinderbett, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Mark tat es ihr gleich. >>Und jetzt?<< fragte er, Peggy zuckte die Schultern. >>Ich bleibe auf jeden Fall heute Nacht hier. Schlafen könnte ich sowieso nicht. << Mark nickte. Auch er würde die Nacht hier verbringen. Was sollte er auch Zuhause? Ohne Peggy, mit dem Wissen, dass seine Tochter im Krankenhaus lag, seine Freundin mit den Nerven zu Fuß war  ...
>>Ich mache sie bettfertig. << sagte Peggy, doch Mark hielt sie zurück, als sie aufstehen wollte. >>Nein, das mache ich. Ruh du dich ein wenig aus,ja? Bitte! Du bist leichenblass und ich will mir nicht auch noch Sorgen um dich machen
müssen. << fügte er hinzu, als Peggy protestieren wollte. Schließlich fügte sie sich und schaute zu, wie Mark Emelie wickelte, umzog und sie behandelte, wie ein rohes Ei. Das tat er immer, aber jetzt noch mehr. Er hatte anscheinend wirklich Angst um sie! >>Was machen wir, wenn sie stirbt?<< fragte Peggy in die Stille hinein und Mark drehte sich erschrocken zu ihr um.  >>Wie kannst du so etwas sagen?<< - >>Die Gefahr besteht. << - >>Peggy, hör auf damit! Das darfst du nicht einmal denken!<< rief Mark und deckte Emelie vorsichtig zu. Mit einer dünnen Decke,damit sie nicht noch mehr schwitzen musste. Dann hockte er sich neben Peggy, die ihre Hände schützend um ihr Gesicht gelegt hatte und leise weinte. Er legte den Arm um sie und obwohl er selber die Angst in sich spürte, wusste er, dass er jetzt stark sein musste. Für Peggy, die im Augenblick nicht selber die Kraft dafür hatte.

Schlafen tat in dieser Nacht niemand von den dreien. Emelie war unruhig, quengelte und weinte stundenlang. >>Das ist die ungewohnte Umgebung. << vermutete Mark. Und nicht zuletzt natürlich die Tatsache, dass das Kind nicht gesund war. Immer und immer wieder trug er sie im Zimmer umher, immer und immer wieder, nahm Peggy sie auf den Arm, kuschelte mit ihr, versuchte, sie irgendwie zu beruhigen, doch nichts schien zu helfen. Gegen 4 Uhr morgens, schaute die Nachtschwester, wie fast jede Stunde zuvor,in das Zimmer hinein, nur um festzustellen, dass die kleine Patientin noch immer nicht eingeschlafen war. >>Soll ich ihr vielleicht etwas zur Beruhigung geben?<< schlug sie ohne großen Enthusiasmus vor, doch Peggy hätte sich lieber die Hände abgehackt, als dieser Person ihre Tochter zu überlassen. >>Nein. Sie ist krank, da weinen Babys halt mal viel. << - >>Ich meine nur, wenn sie ruhig ist, würden Sie auch noch ein wenig Schlaf bekommen. << - >>Nein, danke!<< wehrte auch Mark deutlich ab und die Schwester hob einhaltend die Hände. >>Na gut. Ich habs versucht. << Und damit verließ sie das Zimmer.  Mark schüttelte den Kopf. Was für eine inkompetente Person!
Er schaute zu Peggy, die sich auf dem Bett ausgestreckt und Emelie neben sich liegen hatte. Das klamme Licht im Zimmer, ließ sie totenblass aussehen. Unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, ihr Make Up war verschmiert und ihre Haare lagen wie Kraut und Rüben. >>Du siehst furchtbar aus. << stellte er mitleidig fest und Peggy schnaubte.
>>Na, danke für die Blumen! Verstehe ich gar nicht, wo es mir doch so blendend geht. << Mark setzte sich neben sie auf das Bett und gab ihr einen sanften Kuss. >>Fahr nach Hause und leg dich ein bisschen hin. << schlug er vor, aber Peggy schüttelte sofort den Kopf. >>Ich lasse meine Tochter nicht schon wieder alleine!<< Mark stutzte und sah sie irritiert an. >>Was meinst du mit 'schon wieder'?<< - >>Wir haben sie allein gelassen, Mark. Wir haben sie abgeschoben, nur weil wir für ein Wochenende unseren Spaß wollten. Was sind wir bitte für Eltern?!<< Ihre Stimme brach in Tränen und sie schluchzte auf. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Vielleicht war Emelie ja deshalb krank geworden, weil Mama und Papa gefehlt hatten...
>>Niemand hat Schuld an all dem. << beschwichtigte Mark sie und nahm ihre Hand. >>Niemand. Weder du, noch ich, noch deine Mutter! Okay?<< - >>Nein, nichts ist okay. << Peggy schaute unter Tränen auf, hörte neben sich noch immer ihr Kind, wie es weinte, wie es litt, ganz offensichtlich, und spürte ihre Machtlosigkeit!
>>Bitte Mark! Bitte mach, dass sie wieder gesund wird! Bitte! << flehte sie, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Genauso, wie niemand ein Verschulden hatte, genauso konnte niemand etwas dafür tun, dass Emelie mit einem Wimpernschlag wieder wohlauf war. Auch Mark nicht, der nun auch mit den Tränen kämpfte und einen Kuss auf Peggys Hand hauchte. >>Wenn das in meiner Macht stünde!<<


Es war später Vormittag, als Mark wieder seine Wohnung betrat. Alleine. Peggy hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, wenigstens für ein paar Stunden nach Hause zu fahren, auch wenn die Schwester, die an diesem Morgen zur Frühschicht gekommen war, überaus nett gewesen war und beteuert hatte, Emelie nicht aus den Augen zu lassen. Nein, Peggy blieb stur und standhaft und so musste Mark alleine den Weg nach Hause antreten, um zu duschen,sich umzuziehen und ein bisschen Wäsche zu besorgen.
Mark ließ sich auf das Sofa sinken und atmete tief durch. Auf dem Tisch stand noch das Geschirr vom Vortag, das er aufgedeckt hatte, um gemütlich mit Peggy zu Abend zu essen. Dieses Vorhaben schien unendlich weit weg ...
Er nahm sein Handy und überflog die eingegangenen Nachrichten. Die meisten waren von Natascha, die er irgendwann heute Nacht über den Stand der Dinge aufgeklärt hatte.

*wie geht es euch?? mache mir große Sorgen. :( *

war die jüngste SMS. Mark überlegte, sie anzurufen, doch dazu fehlte ihm momentan einfach die Kraft.


*uns geht es bescheiden, ansonsten alles unverändert. Emelie bekommt Antibiotika*

tippte er schnell und dachte an heute früh zurück, als Dr.Gerlach gekommen war, um Emelie das Antibiotikum zu geben, das sie hoffentlich so schnell wie irgend möglich wieder genesen ließ.

Er stand auf, duschte, aß eine Kleinigkeit und packte neue Sachen für Emelie und Peggy in eine Tasche. Das alles tat er mechanisch, wie programmiert. Er war zwar hier, doch seine Gedanken waren bei seiner kleinen Familie im Krankenhaus geblieben. In dem Moment klingelte es an der Tür und Mark verdrehte die Augen. Das letzte, was er nun brauchen konnte, war Besuch. Trotzdem öffnete er und war überrascht, als Annika vor ihm stand und ihn freudig begrüßte. >>Hi! Schön, dass ihr Zuhause seid!<< rief sie und Mark lächelte flüchtig. Annika sprühte geradezu vor Lebensfreude. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augen leuchteten, sie trug farbenfrohe Kleidung und ihre Fingernägel glänzten in einem grellen pink. Sie sah einfach glücklich aus, der komplette Gegensatz zu Peggy, deren Gestalt heute Nacht wie ein Geist gewirkt hatte. Mark konnte sich aber ohnehin nicht vorstellen, dass es heute überhaupt glückliche Menschen auf der Welt gab ...
>>Ich wollte zu Peggy. Ist sie da? Ich hab auch versucht, sie anzurufen, aber ... <<- >>Sie hat ihr Handy ausgemacht. << erklärte Mark. >>Emelie ist im Krankenhaus. Peggy ist bei ihr geblieben und ich muss jetzt auch sofort wieder los. << Sofort war alle Fröhlichkeit aus Annikas Gesicht verschwunden. Sie erschrak und schaute Mark mit großen Augen an. >>Im Krankenhaus? Aber wieso? Seit wann?<< - >>Seit heute Nacht. Lungenentzündung. << - >>Ach du meine Güte! Wo hat sie das denn weg?<<- >>Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es ihr schlecht geht. Peggy auch. Und mir auch. << gestand er leise und als er Annikas mitfühlenden Blick bemerkte, konnte er seine Angst und seine Tränen nicht länger zurückhalten. In den letzten Stunden hatte er einfach nur funktioniert,funktioneren müssen. Jetzt brach alles in ihm zusammen...
Annika blickte ihn an und wusste nicht recht, zu reagieren. Schließlich schloss sie ihn einfach in seine Arme und ließ ihn weinen. Was sollte sie sonst machen? Sie hätte niemals gedacht, dass sie jemals in die Situation kommen würde, Mark trösten zu müssen ...
>>Kann ich irgendetwas für euch tun?<< fragt sie nach einer Weile zaghaft und Mark löste sich langsam von ihr. >>Bist du so lieb und fährst mich zum Krankenhaus? Ich glaube, ich kann momentan nicht ans Steuer. << - >>Selbstverständlich. << Annika nickte und gemeinsam gingen sie zum Wagen.


Sie ging nicht mit zu Peggy, als sie Mark wenig später vor dem Krankenhaus abgesetzt hatte. Natürlich hätte sie ihrer besten Freundin gerne zur Seite gestanden, aber sie verzichtete darauf. Sie hielt es für besser, wenn die beiden erstmal für sich waren und lernen konnten, mit der Situation umzugehen. Sie hatte Mark nur viel Kraft gewünscht und er hatte sich mit einem dünnen Lächeln von ihr verabschiedet, eher er schnellen Schrittes den Weg zur Station antrat.
Das Bild, das sich ihm im Zimmer bot, war beinahe unverändert. Peggy hockte noch immer an Emelies Bettchen, hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte mit einem merkwürdig leeren Blick vor sich hin.
>>Bin wieder da. << begrüßte Mark sie leise und drückte einen sanften Kuss auf ihr Haar. Peggy sah nur kurz auf und nickte, dann richtete sie ihren Blick wieder auf ihr schlafendes Baby. Mark wusste nicht, ob er es sich aus Wunschdenken einbildete, oder ob die Kleine tatsächlich ruhiger und gleichmäßiger atmete, als zuvor. Nichts würde er sich mehr wünschen! Er strich mit einem Finger über ihre geröteten Wangen, die nach wie vor warm, jedoch nicht mehr ganz so heiß waren. >>Geht es ihr besser?<< fragt er hoffnungsvoll, Peggy zuckte die Schultern. >>Woher soll ich denn das wissen? << Mark presste die Lippen zusammen, als er ihren gereizten Tonfall bemerkte, verzichtete jedoch auf einen Kommentar. Momentan war sie einfach nicht sie selbst. Doch Peggy merkte selbst, dass sie sich im Ton vergriffen hatte. Sie schaute Mark entschuldigend an und rieb sich die Stirn, hinter der sich ein schmerzhaftes Pochen aufzubauen schien. >>Tut mir leid. Ich bin einfach fertig mit den Nerven. << - >>Schon gut. << beschwichtigte Mark sie. Peggy stand auf. >>Bleibst du hier? Ich muss mal aufs Klo. <<- >>Natürlich. << nickte Mark und strich ihr flüchtig über den Arm. Peggy schnürte es die Kehle zu. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen und hemmungslos geweint. Doch sie beherrschte sich mühsam, rang sich ein Lächeln ab und verließ das Zimmer.
Sie nahm kaum etwas war, als sie über den Flur ging und die WCs suchte. Sie sah alles wie durch Nebel und kam sich vor, wie ein Geist: irgendwie nicht richtig anwesend. Deswegen wäre sie auch beinahe mit ihrem Vater zusammengestoßen, der ihr auf ihrem Weg entgegen kam und sie gerade noch auffangen konnte. >>Hoppla, Peggy! Augen auf!<< warnte er sie und sie stoppte abrupt ab. Sie brauchte ein wenig, bis sie ihren Vater erkannte. Offensichtlich hatte er Dienst, denn er stand in seinem weißen Arztkittel vor ihr und hatte einige Akten unter dem Arm, die er beinahe fallen gelassen hatte.
>>Oh, sorry. << brachte sie leise hervor und atmete tief durch. Frank bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. So hatte er seine Tochter noch nie gesehen: so blass, so neben sich, so verweint. Und er konnte sich nicht erklären, was mit ihr los war. >>Was machst du hier?<< wollte er wissen. >>Du siehst schrecklich aus. Ist was passiert?<< Doch Peggy war viel zu aufgewühlt, um sofort Rede und Antwort zu stehen. Sie suchte zwar nach den richtigen Worten, brachte jedoch nur ein unverständliches Gemurmel heraus, schüttelte dann verzweifelt den Kopf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Frank überkam ein Verdacht. Er versteifte sich und trat einen Schritt zurück. >>Hat Mark dich verlassen?<< Peggy schreckte auf und sah ihn verwirrt an. Wie konnte er so etwas denken? >>Nein! Nein, das hat er nicht! << ->>Stehst du jetzt allein da, ja? Mit Kind!<< - >>Papa, hör auf damit! Du hast überhaupt keine Ahnung! Du verstehst nichts. Nichts!<< schluchzte Peggy und nun brachen die Tränen doch aus ihr heraus. >>Emelie ist
krank. << Frank schluckte und wusste nichts rechtes, zu erwidern. >>Wieso krank? Was hat sie?<< fragte er so sachlich, wie möglich, doch er konnte nicht leugnen, dass sich irgendetwas in seinem Inneren erschrocken zusammenzog, als Peggy ihm die ganze Geschichte mit zitternder Stimme erzählte. Kein schönes Gefühl. Als Peggy ihren Bericht beendet hatte, schniefte sie und atmete tief durch. Sie versuchte, irgendetwas in dem Gesicht ihres Vaters ablesen zu können, doch sie konnte sein Gesichtsausdruck nicht recht deuten. Er hatte ihr nur ruhig zugehört, jetzt nickte er, sagte jedoch nichts.

>>Kannst du sie dir nicht mal anschauen?<< bat Peggy schließlich und sah ihren Vater flehend an. >>Bitte Papa!<< - >>Ich bin kein Internist,
Peggy. << - >>Das ist doch scheiß
egal! << rief sie verzweifelt. >>Du bist Arzt! Sie ist deine Enkelin und ich bin verdammt nochmal deine Tochter! Ich bitte dich, schau sie dir an!<<
Frank zögerte. Sein Blick fiel auf die Hände seiner Tochter: sie schien an den Nägeln gekaut zu haben, und er wusste, dass sie das nur tat, wenn sie seelisch wirklich sehr belastet war. Ihm war klar, dass er handeln musste. Abgesehen von seinem Berufseid, konnte er nicht Nein sagen. Er konnte nicht! Es ging um seine Familie! Und wenn er ehrlich zu sich selber war, musste er sich eingestehen, dass ihm der Zustand der kleinen Emelie ganz und gar nicht egal war. Ja, er hatte Angst um sie!
Entschlossen zog er sein Diensthandy hervor, tippte ein paar Zahlen und wartete. >>Frank hier. Ich werde nicht zu der Besprechung kommen….nein, es geht nicht...ich habe einen Notfall bekommen. << fügte er am Handy hinzu, während er Peggy nach wie vor ansah und bemerkte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. Dann verstaute er das Handy wieder in seiner Kitteltasche und nickte Peggy zu, die ihn erleichtert ansah. >>Gut. Gehen wir zu deiner Kleinen!<< sagte er sanft und Peggys zutiefst dankbarer Blick, rief lang vergessene Gefühle in ihm wach. Vatergefühle.