Die Nachhilfestunde 62: Kartenhaus

Frustriert und mit einem reichlich schlechten Gefühl in der Magengegend, schraubte Annika ihren Füller zu und heftete ihre Arbeitsblätter mithilfe einer Büroklammer zu einem kleinen Päckchen zusammen. Noch einmal kontrollierte sie, ob sie auch auf jeden der Zettel ihren Namen geschrieben hatte, obwohl es auch kein Drama wäre, wenn sie es vergessen hätte. Es gab ohnehin nicht viel, was bewertet werden konnte. Sie hatte gerade ihre Zwischenprüfung in der Berufsschule geschrieben und, das wusste sie, gehörig in den Sand gesetzt!
Fast keine der sechs Aufgaben, hatte sie vollständig lösen können. Es war zum heulen! Gelernt hatte sie eigentlich genug, aber sie war so dermaßen unkonzentriert gewesen, dass sie kaum einen klaren Gedanken hatte fassen können…

Leise stand sie auf und schlich nach vorne zum Pult, an den anderen aus ihrem Kurs vorbei, die noch tief über die Aufgaben gebeugt an ihren Plätzen saßen. Annika wusste, dass das ein weiteres schlechtes Zeichen war, denn wenn man kaum etwas geschrieben und dann noch als erste abgegeben hatte, während die Kollegen noch eifrig dabei waren, dann konnte man sich schon ausmalen, woran das lag.
>>Na na, so schlimm war es sicher nicht. << flüsterte ihre Lehrerin ihr aufmunternd zu, als sie Annikas betretenes Gesicht sah. Doch Annika rang sich nur ein höfliches Lächeln ab und floh dann aus dem Raum, ehe sie von ihren Tränen überwältigt wurde. Wieso war das Leben nur so verdammt unfair zu ihr?!
Auf der Straße empfing sie ein frischer Wind, der sie zum ersten Mal seit Betreten der Schule heute Morgen ein wenig durchatmen ließ! Sie legte den Kopf zurück und wartete einen Moment, bis die Tränen wieder etwas versiegt waren. Dann atmete sie tief durch und schaute sich unschlüssig um. Was fing sie nun mit dem angebrochenen Vormittag an? Langsam ging sie los, in Richtung Fußgängerzone. Die vielen kleinen Geschäfte verlockten eigentlich immer unheimlich zu einer Shoppingtour, doch momentan hatte sie weder Lust noch Geld für einen ausgedehnten Stadtbummel. Aus ihrer Tasche kramte sie ein wenig Kleingeld hervor und kaufte sich bei ihren Lieblingsbäcker ein frisches Schokocrossiant. Das war wenigstens etwas Selentrost! Sie ließ sich auf die nächste Bank fallen, knabberte an ihrem Teilchen und beobachtete die Leute, die geschäftig umher wuselten und teilweise ganz schön mürrische Gesichter machten. Was denen wohl für eine Laus über die Leber gelaufen ist, dass sie an diesem sonnigen Tag so mies gelaunt sind, überlegte Annika und musste beinahe grinsen, denn ihr eigenes Gesicht, sah gerade wahrscheinlich nicht viel freundlicher aus…
Als sie bedächtig auf dem letzten Stück Crossiant herumkaute, ließ sich eine junge Frau neben ihr nieder. Sie schien nicht viel älter zu sein als sie selber, dafür aber umso zerstreuter! Annika musterte sie mit einem schnellen Seitenblick: ihre Hände fuhren nervös ihre Oberschenkel auf und ab und ihr Fuß tippte immer wieder ungeduldig auf den Boden. Ihr ganzes Verhalten war mehr als seltsam. Verstohlen beobachtete sie, wie die Frau ihre Fingernägel abwechselnd mit den Zähnen bearbeitete und sie dann wieder in ihren Arm bohrte, an dessen Handgelenk sich schon Kratzer abzeichneten. Langsam wurde Annika die Sache unheimlich. Sie knüllte die leere Papiertüte vom Bäcker zusammen, stopfte sie in ihre Handtasche und wollte gerade aufstehen, als die Fremde sie ansprach.
 >>Hey, hast du vielleicht eine Zigarette für mich?<<
Annika wandte sich ihr unsicher zu und schüttelte den Kopf. >>Ich rauche nicht. << - >>Scheiße! Verfluchte scheiße, Mann!<< rief die Frau und klang beinahe verzweifelt. Sie beugte sich vor, vergrub ihr Gesicht in den Händen, während ihre Füße noch immer unruhig hin und her wanderten. Annika schluckte, nie zuvor hatte sie so ein Verhalten gesehen. Was war nur los mit ihr? Aber wieso beschäftigte sie das überhaupt? Schließlich war das eine wildfremde Person, die da gerade anscheinend einen emotionalen Ausnahmezustand durchlebte. Besser sie entfernte sich schnell, bevor das ganze noch mehr ausartete.
>>Kannst du mir dann wenigstens ein wenig Geld geben?<< bat die Fremde sie und hielt sie so erneut von der Flucht ab. >>Es ist echt dringend! << - >>Nee, ich bin selber ziemlich blank. << sagte Annika und hatte beinahe schon Angst, dass ihr Gegenüber nun völlig durchdrehen, um sich schlagen oder sie abermals anbrüllen würde. Doch nichts davon geschah, stattdessen saß dieses beinahe gespenstische Wesen einfach nur da, starrte sie an, starrte durch sie hindurch, als hätte sie gar nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte. 
>>Ich drehe durch. << sagte die Frau mit brüchiger Stimme. >>Ich werde wahnsinnig, das weiß ich. Ich spüre es! Du musst mir helfen, bitte! << - >>Wir kennen uns doch überhaupt nicht!<< entgegnete Annika und wurde langsam sauer. Was auch immer mit ihr los war, sie wollte damit nichts zutun haben! 
>>Ich bin am Ende! Bitte geh nicht weg!<< flehte die junge Frau, als Annika einen weiteren Versuch tat, sich zu erheben. >>Ich kann nicht alleine sein! Wenn ich jetzt alleine bin, dann … ich weiß, dass ich dann wieder abrutsche! Dann geht alles von vorne los. Das überlebe ich nicht … hilf mir, bitte … <<
Sie brach in Tränen aus und ihr Weinen glich mehr und mehr einem verzweifelten Wehklagen. Annika rang mit sich: eigentlich wollte sie weg! Ganz schnell weg von dieser Frau und dieser grotesken Situation, aber andererseits brachte sie es einfach nicht über sich, sie da jetzt so sitzen zu lassen. Und wenn sie wirklich so schlimm dran war, wie sie behauptete …

Sie schaute sie erneut an, sah die langen braunen Haare, die man eigentlich hätte abschneiden müssen, so kaputt waren sie, sah die grünen Augen, die so unglaublich müde aussahen und die völlig ohne jeden Glanz in diesem blassen, abgespannten Gesicht lagen. Wenn all das nicht wäre, dachte Annika, dann wäre sie eigentlich ziemlich schön … ihr Blick fiel auf ihre Hände, Annika konnte förmlich spüren, wie kalt und trocken ihre Haut war und bekam eine Gänsehaut. Sie musste echt verrückt sein, nicht einfach davonzulaufen! 
>>Ich bin Sina. << sagte die Fremde unvermittelt, Annika versuchte ein kleines Lächeln. Was für ein schöner Name für so eine zerstörte Frau!

>>Würde es dir was ausmachen, wenn ich Emelie heute hier bei dir lasse?<< fragte Peggy während des Mittagessens und sah Mark bittend an. >>Ich wollte gerne zu Annika. << - >>Nein, natürlich nicht. << antwortete Mark. >>Aber wieso nimmst du sie nicht einfach mit? << Er lächelte seine Tochter liebevoll an und beugte sich ein wenig zu ihr. >>Nicht wahr, mein Schatz? Du freust dich doch, wenn du Tante Annika mal wieder besuchen kannst. << Emelie strahlte von einer puddingbekleckerten Wange zur anderen und quiekte. Peggy musste lachen. >>Tante Annika?<< Mark zuckte grinsend die Schultern und widmete sich wieder seinem Essen. Peggy hatte gekocht. Und es schmeckte fantastisch!
>>Ich muss etwas Wichtiges mit ihr besprechen. << erklärte Peggy. >>Das braucht Ruhe und Zeit. << - >>So? Was denn?<< Peggy zögerte. Eigentlich wollte sie ihm nichts davon erzählen, solange sie noch nicht mit ihrer Freundin gesprochen hatte.
>>Mädchengeheimnisse. << sagte sie also geheimnisvoll. >>Glaube mir, manche Dinge willst du gar nicht wissen. << Sie staunte über sich selbst, wie glaubwürdig sie klang, andererseits war das ja vielleicht nicht mal ganz gelogen, denn sie bezweifelte, dass Mark die Nachricht, dass Annika vielleicht noch immer nicht über ihn hinweg war, mit großer Freude erfüllen würde. >>Also schön. << lenkte er ein. >>Dann machen Emelie und ich es uns auch gemütlich. Okay?<< Er sah die Kleine fragend an, sie hatte ganz genau verstanden, nickte und schenkte ihren Eltern ein weiteres herzerfüllendes Lächeln. Peggy seufzte gerührt. Kein Zweifel, sie hatten definitiv die süßeste Tochter der Welt!   
Wenig später stand sie also vor Annikas Wohnung und klingelte nun schon das zweite Mal. Merkwürdig, sonst war sie um diese Uhrzeit eigentlich immer Zuhause. Gerade als sie ihr Handy hervor zog, um sie anzurufen, wurde die Tür geöffnet. Annika sah sie halb erfreut, halb überrascht an. >>Hi Peggy! Wolltest du zu mir?<< - >>Na, zu wem sonst?<< grinste Peggy. >>Hast du Zeit?<< - >>Klar. Nach dem Tag, kann ich ein wenig Ablenkung sehr gut gebrauchen. <<
Annika führte sie durch den schmalen Flur in ihr Zimmer und deutete auf ihren Schreibtisch. >>Entschuldige die Unordnung, aber ich hatte heute Klausur und bis gestern Nacht noch
gepaukt. << - >>Und wie lief’s?<< - >>Frag nicht! Wenn die mir für das korrekte Eintragen meines Namens, des Datums und für Schönschrift keine Punkte geben, hab ich auf jeden Fall ne sechs!<< stöhnte Annika und Peggy musste lachen. >>Oh je. Woran lag‘s denn?<< - >>Ich konnte es einfach nicht! Ich hab die Aufgaben gelesen, aber nicht mal ansatzweise kapiert, was ich zu tun habe.  << Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und schaute Peggy unglücklich an. >>Verstehst du? Das totale Brett vor dem Kopf! Und einfach null Konzentration! Ich hab mich gefühlt, wie damals im Matheunterricht … << Schnell bremste sie ihren Wortschwall und biss sich auf die Lippe. Dass die Sprache auf Mark kam, war das Letzte was sie wollte. Schließlich war das nach wie vor ein kritischer Punkt zwischen ihr und Peggy, doch diese sah sie ganz ruhig an.
>> Ja, darüber wollte ich sowieso mit dir reden. << - >>Über meine verpatzte Klausur und dunkle Erinnerungen an Mathe?<< fragte Annika verwirrt. >>Nicht ganz. << klärte Peggy sie auf und fasste in knappen Worten den Grund ihres Besuches zusammen: dass Timo ihr sein Leid geklagt hatte, sie würde manchmal so abwesend wirken und dass er sich schon gar nicht mehr sicher wäre, ob sie sich freute, ihn zu sehen. >>Ein bisschen seltsam, dass er damit zu mir
kommt. << gestand Peggy abschließend. >>Eigentlich hätte er das zuerst mit dir besprechen sollen. <<
Annika senkte die Augen. >>Hat er auch schon. << - >>Und?<< Sie nestelte an den Fransen ihrer Tagesdecke herum und zuckte die Schultern. Peggy wurde ungeduldig. >>Sag mir bitte nicht, dass Mark dir immernoch im Kopf herum spukt? << - >>Und wenn es so wäre?<< Das war Peggy Antwort genug!
Kraftlos ließ sie sich in Annikas Schreibtischstuhl sinken und schaute ihre beste Freundin kopfschüttelnd an. >>Das kann doch nicht dein Ernst sein!<< - >>Ich hab’s mir auch nicht ausgesucht. << - >>Annika, du bist meine allerbeste Freundin und ich hab dich sehr lieb … aber mit deiner hirnrissigen Schwärmerei für Mark gehst du mir mittlerweile echt unsagbar auf den
Keks! <<- >>Meinst du, mich nervt es nicht?<< Annika sprang auf und fuhr sich verärgert durch die Haare. >>Es ist nicht mehr wie früher, Peggy. Ich weine nachts nicht in mein Kissen, oder reiße mir vor lauter Gram die Haare aus, weil ich Mark nicht haben kann! Ich bin wütend und genervt und frustriert, dass ich einfach nicht von ihm loskomme! Obwohl ich einen Freund habe und obwohl ich weiß, dass Mark nur dich will und du ihn und dass er dich … << Und erneut musste Annika sich gehörig bremsen, sich nicht zu verplappern. Um ein Haar hätte sie Marks Heiratspläne ausgeplaudert! Um Himmels Willen, das wäre eine glatte Katastrophe! 
Peggy schaute sie forsch an. >>Dass er mich was?<< - >>Dass er dich liebt. <<  Annika atmete tief durch und betete, dass man ihr nichts anmerken konnte!
>>Ich hasse mich für meine Gedanken an Mark, weil das Timo gegenüber einfach unfair ist! << - >>Er ahnt sowieso schon, dass du an einen anderen denkst. << Peggy stand auf und trat zu Annika, die mitten im Raum stehen geblieben war und sie entsetzt anschaute.

>>Ich hab ihm nichts gesagt. << beruhigte Peggy sie. >>Aber vielleicht solltest du mal reinen Tisch
machen. << - >>Dann verliere ich ihn!<< - >>Findest du es so wie es jetzt ist, besser?<< fragte Peggy. >>Liebst du Timo überhaupt noch?<< - >>Ich glaube schon … ich weiß es nicht. << - >>Du musst dir dringend klar darüber werden, Süße! << Seufzend sank Annika zurück auf ihr Bett und rieb sich die Augen. Das war irgendwie alles zu viel für sie! Sie hatte noch nie gut mit Stress umgehen können!

>>Was für ein scheiß Tag! Erst diese dumme Klausur, dann diese komische Begegnung in der Stadt und jetzt das!<< - >>Begegnung?<< harkte Peggy nach und setzte sich ebenfalls. >>Was für eine Begegnung?<< -
>>Ich hab heute eine junge Frau getroffen. << erzählte Annika. >>Ungefähr so alt, wie wir. Sie war völlig konfus, am zittern, fahrig und unter uns gesagt: sie sah total abgeranzt aus. Dabei war sie ansich eigentlich ein hübscher Typ … naja, jedenfalls hat sie mich erst um eine Zigarette und dann um Geld angepumpt und ist vollkommen ausgetickt, als ich ihr beides verwehrt habe und meinte dann, dass ich ihr unbedingt helfen müsse, weil sie sonst abrutschen und alles wieder von vorne losgehen würde… total verrückt, echt. <<

Peggy hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Das kam ihr alles beunruhigenderweise irgendwie ziemlich bekannt vor…
>>Hat sie zufällig gesagt, wie sie heißt?<< fragte sie vorsichtig und war sich nicht sicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.
>>Sina. << erwiderte Annika und Peggy war es, als würde ein Blitz durch sie hindurchschießen!
>>Das hat sie jedenfalls behauptet, aber ich glaube, die war gar nicht mehr Herr ihrer Sinne, von daher könnte sie auch anders geheißen haben. <<

Peggys schloss zitternd die Augen. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt! Es war tatsächlich Sina gewesen!
>>Was ist dann passiert?<< fragte sie, denn sie beschlich ein weiterer unguter Gedanke.
>>Ich wollte herausfinden, was das Ganze soll. << sagte Annika. >>Aber plötzlich ist sie aufgesprungen, hat irgendwas ohne Zusammenhang gestammelt und ist dann abgehauen. << - >>Wohin?<< - >>Richtung Bahnhof glaube ich. <<  Peggys Herz setzte einen Schlag aus! Offenbar waren Sinas Entzugssymptome wieder zurückgekehrt, und zwar schlimmer, als vorher. Und offenbar war sie auch auf dem besten Wege, wieder rückfällig zu werden! Unvermittelt stand Peggy auf. Sie musste gehen! Sie musste weg, versuchen, Sina noch davon abzuhalten. Annika hechtete hinter ihr her, als Peggy schon an der Tür war.
 >>Was hast du denn plötzlich?<< - >>Sei mir nicht böse, aber ich muss weg! Ich erkläre es dir ein ander mal,
ja? <<
Und damit war Peggy schon aus der Wohnung gestürmt und ließ Annika zurück, die ihr nachsah und verwirrt dreinblickte. >>Hab ich was falsches gesagt?<< murmelte sie und seufzte resigniert. Ach, an diesem Tag wunderte sie gar nichts mehr!

Peggy aber lief so schnell sie konnte. Die Straßen entlang, immer weiter und weiter, angetrieben von dem festen Entschluss, Sina zu retten, davon abzuhalten, auch nur in die Nähe von irgendwelchen Drogen zu kommen! Das konnte nicht sein, durfte nicht sein! Dann wäre alles umsonst gewesen! Jeder Tag, jeder Kampf, jeder Versuch, Sina ins Leben zurückzuholen, alles wäre gescheitert … das mühsam aufgebaute Kartenhaus würde innerhalb von Sekunden krachend in sich zusammenfallen … Peggy rannte noch schneller. Nein, das konnte sie unmöglich zulassen!