Die Nachhilfestunde 91: Flucht

Die nächste Nacht zog sich endlos! Wie lang doch die Stunden werden konnten, wenn man alleine war, und verletzt. Peggy lag auf der Couch, hellwach und todmüde, und konnte ihre Gedanken einfach nicht zur Ruhe bringen. Dieser Tag hatte sie mehr als aufgewühlt und alles durcheinandergebracht! Eine Weile hatte sie noch geweint, doch mittlerweile kamen keine Tränen mehr, und sie starrte nur mit blinden Augen gegen die Decke in die Dunkelheit. Ihr war eiskalt, Mark fehlte ihr, und das obwohl er nur ein Zimmer weiter lag. Aber irgendwie hatte sie sich nicht einfach so neben ihn legen können. Irgendwie war da plötzlich eine große Distanz entstanden, die ihr mehr weh tat als alles andere. Obwohl im Grunde wirklich nicht viel passiert war, und doch spürte sie eindeutig, dass etwas anders war, als sonst.
Peggy setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare. Sie hatte ihm wirklich zugetraut, Sex mit einer anderen Frau gehabt zu haben! Wieso? Und wieso schafften sie es nicht, über ihre Diskrepanzen zu reden? Zum hundertsten Mal dachte sie über all das nach und fand doch keine Antwort. Ich muss wieder klar werden im Kopf, dachte sie. Ich muss diese ganze Scheiße klarkriegen! Aber sollte sie wirklich gehen? Und wo sollte sie hin? Zu Annika? Nein, denn Sascha war dort mittlerweile sicher Dauergast. So würde sie niemals Abstand zu all dem bekommen. Zu ihren Eltern? Auch das erschien ihr abwegig. Auch wenn sie sie mit offenen Armen empfangen würden, würde sie nicht wieder in ihr Elternhaus einziehen wollen, mal ganz davon abgesehen, dass sie dieses ganze Drama am liebsten vollständig vor ihnen verheimlichen würde. Sie stand auf und trat ans Fenster. Es war eine helle Mondnacht, totenstill. Oder ob sie doch einfach hierbleiben und den ganzen Mist vergessen sollte? Manchmal half Verdrängung doch ganz gut. Sie könnte doch jetzt einfach ins Schlafzimmer gehen, sich hinlegen und so tun, als wäre nie etwas geschehen. Nein, das konnte sie eben nicht, auch wenn Mark darum sicher nicht böse wäre. Für ihn gab es anscheinend keinerlei Handlungsbedarf. Sie sah auf die Uhr, es war halb 4. Es hatte keinen Sinn mehr zu versuchen, einzuschlafen. Und so kauerte sie sich erneut auf der Couch zusammen und wartete einfach ab, bis es hell wurde.

Aus einem unruhigen Schlaf erwacht, setzte Mark sich im Bett auf und legte den Kopf in den Nacken. Was für eine Nacht! Wie lange er wachgelegen hatte wusste er gar nicht mehr, aber geschlafen hatte er maximal drei Stunden. Peggy war tatsächlich nicht zu ihm gekommen, sondern im Wohnzimmer geblieben. Sie nahm die Sache mit dem Abstand ernster, als ihm lieb war. Er stand auf und zog sich an. Es war viertel nach 7, heute würde er definitiv rechtzeitig in der Schule ankommen, denn auf das Frühstück würde er verzichten, so elend fühlte er sich. Nicht einmal der Gedanke an Kaffee konnte seine Laune heben. Leise schlich er sich nach nebenan, die Couch war leer! Die Decke nur flüchtig zusammengelegt. Mark schluckte und spürte sein Herz schneller schlagen. Wie von einer Vorahnung getrieben lief er in Emelies Zimmer, das er ebenfalls leer vorfand. Keine Peggy, keine Emelie! Einfach weg?! Hektisch sah er sich um, das konnte nicht wahr sein! Hatte Peggy ihn tatsächlich einfach sang- und klanglos sitzenlassen? Doch in der Küche fand er schließlich den Zettel, der ihn ein wenig beruhigte. Peggy war schon vor ihm aus dem Haus gegangen und hatte Emelie zur Kita gebracht. Erleichtert lehnte Mark sich an die Küchenzeile, während sich sein Herzschlag langsam beruhigte. Das war es also! Für einen Moment hatte er wirklich gedacht, sie wäre getürmt, doch nun kam ihm dieser Gedanke beinah beschämend vor. Traute er ihr so etwas wirklich zu? War es das, was Peggy gestern gemeint hatte? Wieso dachten sie manchmal so schlecht voneinander? Mark schüttelte den Kopf, er hatte diese Gedanken die ganze Nacht lang gewälzt. Er musste aufhören damit, wenigstens für ein paar Stunden!   
Der Schulalltag brachte immerhin ein wenig Zerstreuung. Auch heute benahm sich seine Klasse beinah beängstigend gut, aber Mark hinterfragte diesen mustergültigen Zustand nicht weiter, sondern nahm ihn dankend an. Wer weiß, wie lange er anhalten würde. Nadja dagegen sprang heute mal wieder wie ein Wirbelwind um ihn herum und nahm von seiner offensichtlich gedrückten Stimmung keinerlei Notiz! Langsam wurde es anstrengend. Dabei wollte er die Zeit eigentlich nutzen und Peggy suchen, die er vorhin mit Dr. Timmermann im Gespräch und nur von weitem gesehen hatte. Sie hatte gelächelt, doch Mark hatte ihr sofort angesehen, dass sie ebenfalls kaum geschlafen haben musste. Wie er! Und obwohl sich sein Magen noch immer wie zugeschnürt anfühlte stand er nun in der Cafeteria und wartete auf seinen bestellten Kaffee. Auch wenn ihm die Übelkeit noch immer im Magen lag, würde das Koffein vielleicht ein bisschen gegen die hartnäckige Müdigkeit helfen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Gestalt wahr, die sich direkt neben ihn stellte. Nadja hatte ihn also auch hier gefunden! Er sollte ihr wohl verständlich machen, dass er keineswegs beabsichtigte, den ganzen Tag mit ihr zu verbringen, doch als er zur Seite schaute, war es nicht Nadja, sondern Peggy, die er erkannte. Aus einem blassen Gesicht heraus blickten ihre Augen mit einem merkwürdig trüben Blick geradeaus. Mark schluckte. Es tat so gut und gleichzeitig so weh, sie zu sehen!
>>Ich hab dich gesucht. << sprach er sie an, sie blinzelte rasch. >>Wieso?<< - >>Weil wir reden müssen, Peggy! Dringend! << Schweigend lächelte sie der Verkäuferin zu, als diese ihr ihre Bestellung über den Tresen reichte. Der XXL-Kaffeebecher. Dasselbe, das auch Mark geordert hatte.
>>Willst du mich verlassen?<< fragte er ohne es richtig zu wollen, doch die Worte brachen einfach aus ihm heraus. Endlich wandte sie sich ihm zu. >>Das hab ich nie gesagt. << - >>Aber gedacht?<< - >>Siehst du, das meine ich. Wir verstehen uns andauernd falsch. << Ihre Stimme brach und sie atmete tief durch, um ihrer Emotionen wieder Herr zu werden. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann sah sie ihn wieder an. >>Ich werde für ein paar Tage nicht da sein. Mama muss geschäftlich nach Österreich und ich werde sie begleiten. <<
Mark fiel beinah der Becher aus der Hand, so sehr schlug diese Nachricht ein. Ungläubig starrte er sie an. Sie schien es wirklich ernst zu meinen.
>>Wann?<< - >>Nächste Woche. Dann ist mein Praktikum hier auch vorbei, also passt das ganz gut. << - >>Und Emelie?<<
Peggy senkte den Blick. Über Emelie hatte sie lange nachgedacht, noch länger als über ihren eigentlichen Entschluss. Aber schließlich hatte sie eingesehen, dass es das Beste für die Kleine war, wenn sie hierbleiben würde.
>>Ich nehme sie nicht mit. Das wäre viel zu viel für sie und sie würde es ohnehin nicht verstehen. Vorausgesetzt, das ist Okay für dich. << Mark erwiderte nichts, das flaue Gefühl in seinem Magen nahm zu. Eine Woche ohne sie?! Natürlich war das nicht Okay für ihn!
>>Glaubst du wirklich, dass das richtig ist?<< fragte er. >>Wieso willst du unbedingt weg?<< - >>Weil ich einfach mal Zeit für mich brauche!<< antwortete Peggy schwach. >>Bitte mach es nicht schwerer als nötig. << - >>Aber ich liebe dich!<< Peggy schluckte, seine Worte trafen ihr direkt ins Herz. Ich dich auch, schoss es ihr durch den Kopf. Aber ich kann gerade nicht in deiner Nähe sein. Wieso verstehst du das nicht? Wieso quälst du uns so? >>Ich muss los. << murmelte sie. >>Wir sehen uns später. << Und damit ließ sie Mark zurück.

 

Natascha selbst wusste freilich noch nichts davon, dass ihre Tochter sie auf ihrer Reise zu begleiten beabsichtigte. Deshalb war sie ziemlich erstaunt, als Peggy am Nachmittag plötzlich vor ihr stand und sie inständig darum bat, mitkommen zu dürfen. >>Das wird kein Urlaub, Peggy.<< sagte Natascha mit leiser Stimme, denn sie befand sich noch in ihrem Büro. Die Tür zum Vorraum war nur angelehnt und ihre Sekretärin reckte schon neugierig den Hals. >>Ich hab dort einiges zu erledigen. Wir würden uns kaum sehen. << - >>Das weiß ich. Trotzdem. << blieb Peggy beharrlich und Natascha runzelte die Stirn. Sie wusste sofort, dass da etwas nicht stimmte. Peggys erschöpftes Seufzen klang irgendwie nach dicker Luft.
>>Ich will einfach nur mal raus hier und ein bisschen nachdenken. Kannst du das nicht verstehen?<< Natascha schwieg. Doch, das konnte sie verstehen. Und auch wieder nicht, denn man floh nicht einfach so aus seinem Leben, noch dazu alleine, denn anscheinend wollte Peggy weder Mark noch Emelie mitnehmen. Kein gutes Zeichen!
Natascha trat um ihren Schreibtisch herum und nahm Peggys Hände. Einen Moment lang standen sie einfach nur da und Natascha erkannte den todtraurigen Blick in den Augen ihrer Tochter. Sie wirkte vollkommen durcheinander und die Emotionen schienen wie ein Wirbelsturm in ihr zu toben. >>Irgendwie hab ich das Gefühl, es ist nichts mehr so, wie es mal war. << flüsterte Peggy da wie automatisch. >>Es fühlt sich alles anders an als vorher. << - >>Vor was?<< fragte Natascha vorsichtig, Peggy zögerte. Sie dachte an den Streit mit Mark, daran, wie er die halbe Nacht weg gewesen und wie ihr dieser ekelhafte Parfumgeruch in die Nase gestiegen war.
>>Habt ihr euch gestritten?<< fragte Natascha, Peggy hob die Schultern. Der Streit war nur ein Auslöser gewesen, oder?  >>Willst du es mir erzählen?<< - >>Ich will nur wissen, ob ich das richtige tue. << wich Peggy einer Antwort aus. >>Ob es richtig ist, wenn ich mit dir mitkomme. << - >>Was richtig ist, und was nicht, das weiß man immer erst hinterher. << erwiderte Natascha mit einem milden Lächeln. >>Aber wenn du meinen Rat hören willst: es ist nicht immer gut, wenn man davonläuft, anstatt sich dem zu stellen, was einen belastet. <<
Peggy schluckte gegen die bitteren Tränen an, die ihr den Hals hochkrochen. Nun war sie endgültig hin und hergerissen. Eigentlich hatte sie gehofft, ihre Mutter würde ihr vor Freude um den Hals fallen und direkt das zweite Flugticket für sie buchen. Stattdessen schien sie ihr nun von der Reise abzuraten.
>>Es ist deine Entscheidung. << fügte sie noch hinzu und lächelte wieder das typisch mütterliche Lächeln. >>Und du wirst das Richtige tun. <<
Darüber war sie sich alles andere als sicher, doch so gut es eben ging, versuchte Peggy ihr Lächeln zu erwidern. 

Es war der allerletzte verfügbare Platz, den Peggy in der Flugmaschine hatte reservieren können. Für ein paar Sekunden hatten ihre Finger zögernd über der Eingabetaste geschwebt, doch dann hatte sie ihre Buchung abgeschickt und nun gab es kein Zurück mehr. Morgen um diese Zeit würde sie bereits mit ihrer Mutter in Österreich sein. Nun saß sie da und starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm, auf dem sich die Fluggesellschaft herzlich für ihre Buchung bedankte und ihre Freude kundtat, sie bald begrüßen zu dürfen. Peggy jedoch konnte keine rechte Freude in sich wahrnehmen. Momentan fühlte sich alles einfach nur beklemmend an. Es war wirklich höchste Zeit, hier abzuhauen und ein wenig Abstand zu gewinnen. Peggy sah auf die Uhr, bald würde Mark nach Hause kommen. Die letzten Tage waren kaum auszuhalten gewesen, so angespannt und anstrengend war die Stimmung zwischen ihnen. Peggy war sich sicher, dass auch er die Veränderungen nun nicht mehr leugnen konnte! Aber darüber sprechen konnten sie nicht. Wieso auch immer.
Sie stand auf und zog ihre Reisetasche unter dem Bett hervor. Willkürlich packte sie einige Kleidungsstücke hinein, ohne wirklich darauf zu achten, was sie mitnahm. Im Grunde war das auch überhaupt nicht wichtig. Sie würde ohnehin wahrscheinlich den ganzen Tag im Hotelzimmer hocken und vor sich hin grübeln. Wen interessierte es da schon, was sie anhatte?
Die Haustür ging auf und gleich darauf hörte Peggy aufgeregtes Fußgetrappel im Flur. Emelie kam auch heute wieder völlig überdreht aus dem Kindergarten zurück. Sicher hatte sie wieder tausend spannende Dinge auf einmal erlebt! Peggy hörte Marks Stimme und ihr Herz zog sich zusammen. Dass sie nun tatsächlich den Flug gebucht hatte, würde sie ihm am besten direkt mitteilen.
>>Hey. Du bist schon da.<< begrüßte Mark sie leise, sie nickte.  >>Uni war heute früher aus. Ist ja Freitag. Wie war dein
Tag?<< - >>Beschissen. << erwiderte er ohne zu Zögern und Peggy schluckte. Wenigstens war er ehrlich. Sie kniete sich zu Emelie hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. >>Und du hast schon ein Eis bekommen?<< stellte sie fest, als sie das Wassereis erkannte, das sich langsam aber sicher auflöste und in klebrigen Schlieren über Emelies Hand lief. Emelie nickte stolz und strahlte dankbar zu Mark hinauf. Beim Anblick ihrer leuchtenden Augen und dem verschmierten Mund überkam Peggy schon jetzt der Abschiedsschmerz! Auch ihr würde sie erklären müssen, dass sie nun für eine Weile nicht da sein würde.
>>Du packst?<< hörte sie Mark in dem Moment aus dem Schlafzimmer rufen und zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er weggegangen war. Sie hob Emelie auf ihre Arme und folgte ihm. Er stand wie versteinert da und starrte auf ihre Tasche. >>Ich fliege morgen früh. Hab eben gebucht. << erklärte Peggy so ruhig wie möglich, innerlich jedoch zerriss es ihr das Herz! Und noch schlimmer war, dass Mark nichts sagte. Nichts. Er schwieg, als würde er nie wieder zu ihr sprechen.
>>Fliegen?<< schnappte Emelie auf und wurde ganz aufgeregt. >>Du kannst fliegen?<< - >>Nein, nicht wirklich. << lächelte Peggy traurig. >>Aber eine Maschine kann das, und die nimmt mich mit. << - >>Wohin denn?<<
Vorsichtig stellte Peggy ihre Tochter auf dem Boden ab und kniete sich abermals zu ihr. >>Pass auf, mein Schatz: ich werde für eine Weile nicht hier sein. Ich besuche ein anderes Land, weißt du?<<
Peggy spürte die Tränen in ihren Augen brennen, als sie Emelies großen fragenden Blick sah, der überhaupt nicht zu verstehen schien, was gerade vorsich ging.
>>Ich hab dir doch vom aufräumen erzählt. << fuhr sie fort. >>Und das muss ich jetzt machen. << - >>Kann ich mitkommen?<< - >>Nein. << schüttelte Peggy den Kopf. >>Du musst hierbleiben und auf Papa aufpassen. << Sie hob den Blick. Mark stand ein wenig abseits und sah die kleine Szene mit zitternden Lippen mit an. Es fehlte nicht mehr viel und auch bei ihm würden sich die Tränen Bahn brechen.
>>Aber ich beeile mich und dann bin ich auch ganz schnell wieder da, okay? << sagte sie wieder an Emelie gewandt, die noch immer ein wenig verwirrt aussah, aber zaghaft nickte. Liebevoll streichelte Peggy ihr über die blonden Haare, dann drückte sie die Kleine ansich und atmete tief durch. >>Mama liebt dich über alles! Vergiss das nicht. << flüsterte sie, während sie Emelies kleine Hände an ihrem Nacken spürte, die sie so fest drückten, als wollten sie sie ewig festhalten!