Die Nachhilfestunde 64: back in time

 

Die Tage vergingen, und entgegen Marks Hoffnungen, wollte das so sehr herbeigesehnte Papa noch immer nicht über Emelies Lippen kommen. Stattdessen hielt sie auch heute mal wieder den Schlaf der Gerechten, was Peggy gerade aber nur allzu recht war: sie steckte mitten im Unistress, da bald eine ziemlich wichtige, wie auch schwierige Klausur anstand und sie schon jetzt das reinste Nervenbündel war!
>>Ich kenne dich doch. << hatte Mark gefeixt. >>Du gehörst zu diesen Studenten, die vorher groß rumjammern, sie könnten überhaupt nichts und dann mit 1,0 bestehen! So war das damals in der Schule schon. << - >>Gar nicht wahr!<<< hatte Peggy zurückgemault und mit der Hand auf ihren Bücherstapel geschlagen. >>Und außerdem kann man das hier ja wohl nicht mit diesem pille-palle Schulstoff vergleichen. << Und noch bevor Mark irgendetwas entgegenbringen konnte, hatte sie ihn schon mit energisch – verzweifelten Worten hinaus gebeten, und Mark hatte immernoch grinsend die Wohnung verlassen. Wenn es um Prüfungen ging, hatte Peggy wirklich Nerven aus Gummi, und das, obwohl sie meistens tatsächlich top vorbereitet war. Aber das Beste war, man ließ sie dann einfach in Ruhe …
In der Stadt angekommen gönnte Mark sich zunächst ein kleines Mittagessen, ehe er beschloss, Peggy eine große Portion Nervennahrung in Form reinster Zartbitterschokolade mitzubringen. Das half meistens ganz gut, wenn sie sich wegen irgendwelchen Dingen verrückt machte. Gerade, als er in Richtung Einkaufspassage aufbrechen wollte, wurde er zurückgehalten. Eine junge Frau mit großer schwarzer Sonnenbrille vor den Augen, blieb vor ihm stehen und strahlte ihn erfreut an. Doch erst, als sie ihre Brille ins Haar schob, erkannte Mark, um wen es sich handelte. >>Ach du bist es, Nadja! Ich hab dich gar nicht
erkannt! << - >>Tja, wir haben uns ja auch schon lange nicht mehr gesehen. Schade eigentlich! << - >>Was macht der Job?<< wechselte Mark schnell das Thema, damit Nadja erst gar nicht zu flirten anfangen konnte. Er konnte sich noch gut an ihre Avancen erinnern, die sie ihm während ihrer Referendariarzeit bei ihm gemacht hatte. Und er wusste auch noch, dass sie für Peggy damals ein rotes Tuch gewesen war, was umgekehrt aber genauso gegolten hatte. Schließlich hatte Nadja genau bemerkt, dass zwischen Peggy und ihm irgendetwas vorsich ging …
 >>Ich bin nun offiziell Lehrerin! Mit staatlichem Examen und allem Drum und Dran! << unterbrach Nadja freudestrahlend Marks Erinnerungen an vergangene Zeiten. >>Und ja, ich bin auch noch an der gleichen Schule wie damals. Mein Referendariat dort hat mir so gut gefallen, dass ich einfach bleiben wollte! Und da Herr Wieland mittlerweile in den Ruhestand getreten und somit eine Stelle frei geworden ist … <<
Sie hob zufrieden die Schultern.  >>Und wie geht’s
dir? << Sie schlenderten langsam weiter. >>Im Kollegium haben sie erzählt, du seist in Elternzeit. << - >>Ja, das stimmt. Emelie ist jetzt knapp zwei Jahre alt und der reinste Schatz!<< Ihm lag es auf der Zunge zu sagen, mit wem er diesen Schatz bekommen hatte, behielt es dann aber doch für sich. Nadja musste auch nicht gleich alles wissen, schien aber auch nichts zu ahnen, denn sie zeigte sich ehrlich erfreut und glücklich, was sicher nicht so wäre, würde sie erfahren, mit wem er zusammen war, da war sich Mark sicher!
>>Das klingt doch toll! Und ab wann kommst du zurück?<< - >>Zurück?<< - >>Na, an die Schule! Du willst doch sicher nicht ewig Zuhause bleiben, oder?<< Mark lächelte flüchtig, während seine Gedanken zu seinem Beruf zurück wanderten. Schule, Schüler, Unterricht geben, Lehrer sein … das alles schien so unendlich weit weg! Als hätte es beinahe gar nichts mehr mit ihm und seinem Leben zu tun. Es gab so viel anderes, was ihn momentan umgab und glücklich machte. Und doch spürte er ganz genau, dass er all das ziemlich vermisste! Aber an einen Wiedereinstieg hatte er noch gar nicht gedacht … bis jetzt!
>>Mal sehen. Ich habe mir bislang noch keine Gedanken darüber gemacht. << sagte er, als Nadja ihn auffordernd ansah. >>Das will alles mit Ruhe erwogen werden. Ich war jetzt so lange nicht da … << - >>Zeit wird’s! << fand Nadja. >>In zwei Wochen, der alljährliche Sommerball. Die Schüler stellen ein Programm zusammen, es gibt ein bisschen Musik, Essen, Trinken … << - >>Ja, ich erinnere mich. << unterbrach Mark ihren Redeschwall und musste grinsen. Der berühmte Sommerball! Den gab es schon ewig, und er wurde von Jahr zu Jahr nicht interessanter!
>>Das wäre doch eine gute Gelegenheit, dich mal wieder blicken zu lassen. Dann kannst du auch gleich deine Tochter präsentieren. Und deine Freundin. << fügte sie eine Spur weniger enthusiastisch hinzu. Mark nickte gedankenverloren. Ja, das war vielleicht wirklich keine schlechte Idee. >>Ich überleg’s mir. << versprach er und Nadja war zufrieden.

Es war früher Abend, als Mark nach Hause zurückkehrte, wo sich ihm aber ein beinahe identisches Bild wie vorhin bot: Peggy saß an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf in die Hände gestützt und war so in ihr Buch vertieft, dass sie sein Eintreten überhaupt nicht bemerkte. Lächelnd blieb er in der Tür stehen und beobachtete sie eine Weile. Hochkonzentriert, völlig in ihrer eigenen Welt, vom Ehrgeiz fest im Griff … und bei all dem so unglaublich hübsch! Er könnte ihr stundenlang zusehen. Auch dieser Anblick ließ ihn sich an Früher erinnern, an die Zeit, in der Peggy noch als Schülerin im Klassenraum vor ihm gesessen, die von ihm gestellten Unterrichtsaufgaben zu lösen versucht und dabei immer gedankenverloren auf ihrem Stift herum gekaut hatte. Eine Geste, von der Mark sich irgendwann hatte eingestehen müssen, sie ziemlich sexy zu finden, doch das alles hatte er Peggy nie erzählt …
>>Ich hasse Anatomie. Wieso ich mich damit rumschlagen muss, möchte ich wissen << murmelte sie da leise, wie zu sich selbst und Mark trat vorsichtig näher. Er warf einen Blick auf ihre Lektüre, anscheinend ging es um den Aufbau der Nerven, in der Tat kein leichter Stoff …
Langsam legte er seine Hände auf ihre Schultern und begann, sie zu massieren. Peggy zuckte nur kurz erschrocken zusammen, dann hatte sie ihn schon erkannt. >>Oh Mark, das ist gar nicht gut, was du da machst. Du lenkst mich total ab! << quengelte sie, Mark lachte. >>Gut so! Schluss für heute!<< - >>Aber ich muss noch mindestens zwei Texte lesen. << - >>Morgen ist auch noch ein Tag. << Er drückte auf ihren Nacken, der sich wie versteinert anfühlte und Peggy unterdrückte ein Stöhnen. Das stundenlange Sitzen in angespannter Haltung, forderte nun seinen Tribut.
>>Was macht Emelie?<< - >>Schläft. Immernoch. Die hat’s gut. Die muss sich nicht mit diesem Mist hier rumplagen. << Peggy hielt ihre Mappe mit ihren Mitschriften hoch und ließ sie gleich darauf mutlos wieder fallen. >>Ich glaube, ich melde mich für die Klausur einfach krank. << - >>Frau Peggy Steinkamp, ich muss doch wirklich sehr bitten!<< unterbrach Mark seine Massage mit gespielt ernstem Tonfall, zog sie auf ihre Füße und sah ihr in die Augen. >>Hast du das in deiner Schulzeit etwa gelernt? Dass man aufgibt, schwänzt, wenn man Angst vor Klausuren hat? Das scheint ja ein feiner Lehrer gewesen zu sein, den du da hattest. << - >>Ich hatte den besten, klügsten, charmantesten und nettesten Lehrer Allerzeiten!<< grinste Peggy und schmiegte sich an ihn. >>Er konnte fabelhaft unterrichten und die Schüler kommender Generationen können sich nur glücklich schätzen, wenn er vor ihnen steht. << - >>Ja … darüber wollte ich eh mit dir reden. << Peggy sah ihn fragend an und Mark spürte seine Nervosität steigen. Die Begegnung mit Nadja und ihr Schwärmen über die Schule und den Beruf hatten ihm bewusst gemacht, wie sehr es ihm fehlte, vor einer Klasse zu stehen und zu unterrichten und wie gerne er wieder an die Schule zurückkehren würde. Aber dass er das nicht über Peggys Kopf hinweg einfach so entscheiden konnte, war ihm genauso klar. Er konnte nur ihre Reaktion überhaupt nicht einschätzen …
>>Ich hab Nadja getroffen. << begann er und Peggys Miene verfinsterte sich. Mark schluckte. Oh je, das würde kein leichtes Unterfangen werden!

>>Oh Mark, das kann ich doch absolut verstehen!<< Mit einfühlsamer Miene nahm Peggy seine Hand und sah ihn an. Nach langem Herumgedruckse, hatte Mark ihr schließlich mehr über das Zusammentreffen mit Nadja erzählt und auch von seinem wach gewordenen Wunsch, wieder in seinen Beruf zurückzukehren. Und er hatte das alles so vorsichtig und mit so viel Umschweife ausgedrückt, dass Peggy schon beinahe Mitleid bekommen hatte. Anscheinend wollte er sie nicht überrumpeln oder kränken, oder den Eindruck entstehen lassen, die Rolle als Vater und Hausmann wäre ihm mittlerweile zuwider… nun saßen sie sich auf dem Bett im Schlafzimmer gegenüber und Peggy versuchte, ihm das scheinbar schlechte Gewissen zu nehmen.
>>Ist doch logisch, dass du wieder Lust hast, zu arbeiten. Immerhin warst du jetzt fast zwei Jahre Zuhause. Und ich weiß doch, wie sehr du deinen Job liebst!<< - >>Ja, das tue ich. Aber dich liebe ich auch. Und ich liebe Emelie … << - >>Das Eine hat doch mit dem Anderen nichts zu tun. << fand Peggy. >>Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde Theater machen, oder es dir verbieten? << - >>Ich hätte es dir nicht verübelt. << - >>Ach Mark, was für ein Schwachsinn!<<
Sie kletterte auf seinen Schoß und gab ihm einen innigen Kuss.  >>Wenn du wirklich wieder an die Schule zurückwillst, bin ich die Letzte, die dir im Weg steht. << Mark sah ihr tief in die Augen, die ihn lächelnd und so vollkommen unbekümmert ansahen, und seine Liebe zu ihr wuchs einmal mehr!
>>Du bist ein Schatz. << murmelte er. >>Aber was machen wir mit der Kleinen?<< Peggy seufzte nachdenklich und warf einen Blick auf ihr nach wie vor schlafendes Bündel, das neben ihnen lag. >>Tja, wenn ich keine Vorlesungen habe, passe ich natürlich auf sie auf! Und ansonsten werde ich meine Eltern fragen,
oder … << - >>Ich hab auch schon an eine Kita
gedacht. << erriet Mark ihre zögerlichen Gedanken und strich eine Haarsträhne aus Peggys Stirn. >>Aber ich weiß, wie schwer dir das fallen würde. << Peggy hob die Schultern. Natürlich würde ihr das schwer fallen! Wer gab sein Kind schon gerne in fremde Hände?! Andererseits wusste sie, dass irgendwann jedes Elternpaar diesen Schritt gehen musste, es war beinahe schon Normalität. Und sie wusste auch, dass es für Emelies Entwicklung nur förderlich wäre, mit Gleichaltrigen in einer Gruppe zusammenzukommen…
>> Naja, darüber können wir uns beizeiten ja nochmal Gedanken machen. << lenkte Peggy schließlich ein. >>Ab wann möchtest du denn anfangen?<< - >>Wenn alles geklärt und in trockenen Tüchern ist! Und außerdem muss ich ja auch erstmal in der Schule anticken. << - >>Soll ich mitkommen?<< Peggy grinste verschmitzt. >>Wäre doch lustig. Und bestimmt auch spannend, mal wieder die alten Gefilde zu betreten. << - >>Das könntest du schneller, als du denkst. << erwiderte Mark geheimnisvoll. >>Übernächste Woche ist der Sommerball. Nadja hat uns eingeladen. << - >>Uns?<< Peggy lachte. >>Na, wenn sie mich an deiner Seite sieht, wird sie das bestimmt noch bereuen!<<

Es war der reinste Nostalgieschub, als Peggy zwei Wochen später, an einem wunderbar lauen Sommerabend neben Mark auf das Schulgebäude zuging! Ihr kamen fast die Tränen, als sie sich der vielen aufregenden, lustigen, traurigen und nervenaufreibenden Geschichten entsann, die sie hier zusammen mit ihren Freundinnen erlebt hatte! Sie blieb einen Moment stehen und blickte an der altehrwürdigen weißen Fassade hoch. Wie jung und naiv sie damals noch gewesen war, und wie unglaublich gefangen in diesem Mikrokosmos Schule, der damals ihre ganze Welt dargestellt hatte, aber verglichen mit der echten Erwachsenenwelt jedoch nur ein winziges Fleckchen war …
>>Da werden Erinnerungen wach, hm?< Mark lächelte, ihm erging es da nicht anders! Hier hatte alles begonnen: die zarten Bande zwischen Peggy und ihm, die immer stärker gewachsen und irgendwann zu einer Liebe geworden waren, die er so noch nie erlebt hatte und die bis heute andauern sollte, was er damals manchmal fast für unmöglich gehalten hatte, so schwierig war es zeitweise gewesen. Aber sie hatten gekämpft und waren letztendlich belohnt worden.
>>Eigentlich bin ich immer gerne hier her
gekommen. << sinnierte Peggy, als sie schließlich weitergingen, den Kiesweg entlang, der über den Schulhof zu der großen Freitreppe führte, vor deren Stufen die Feier stattfinden sollte. >>Was natürlich nicht zuletzt an dir lag. << - >>Das kann ich nur
zurückgeben. << Mark gab ihr einen Kuss auf die Wange und seufzte. >>Vielleicht hätten wir Emelie doch mitnehmen sollen. Ich hab ein ganz schlechtes Gewissen, dass wir sie schon wieder bei deinen Eltern geparkt haben. << - >>Das wäre doch viel zu spät für sie geworden. << sagte Peggy beruhigend, es war kurz vor 19 Uhr. >>Und außerdem: wenn du hier bald wirklich wieder anfängst, wird sie sich eh daran gewöhnen müssen, länger ohne uns zu sein. <<
Sie lächelte, doch gleichzeitig überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Es würde ihr schwerer fallen, als gedacht, ihre kleine Tochter abzugeben …
Vor der Freitreppe hatten sich schon viele Menschen eingefunden: Lehrer, Schüler, Eltern und Geschwister, und Peggy entdeckte sogar noch ein paar Ehemalige in dem Getümmel, die einige Jahre vor ihr hier ihren Abschluss gemacht hatten. Sie sah sich um, blickte über den weitläufigen Schulhof.  Alles schien wie damals. Es hatte sich kaum etwas verändert: der Zaun vor dem Schulgarten hatte frische Farbe bekommen und das alte, rostige Fußballtor, das Peggy noch aus ihren Zeiten kannte, war endlich durch ein Neues ersetzt worden. Aber ansonsten sah alles noch genauso aus, wie Peggy es in Erinnerung hatte. Es war, als wäre sie in der Zeit zurückgereist … es war seltsam. Seltsam, und irgendwie auch schön. So vertraut…
Mark war mittlerweile schon von einigen seiner Kollegen entdeckt, mit großem Hallo begrüßt und sofort so in Beschlag und in die Mangel genommen worden, dass sie Peggy gar nicht bemerkten. Sie wurde etwas abgedrängt, was sie aber nicht weiter störte. So konnte sie sich unbemerkt aus dem Staub machen und  die Treppe hinauf, in das Schulgebäude schleichen. Zu gerne wollte sie auf eigene Faust einen Streifzug unternehmen, um zu sehen, ob auch im Inneren des Hauses die Zeit stehen geblieben war.