Die Nachhilfestunde 53: der richtige Weg?

>>Und, hat dich unser kleines Geheiminterview neulich weitergebracht?<< fragte Sascha und grinste. Er saß mit Mark auf seinem kleinen Balkon in der abendlichen Sonne und teilte mit ihm ein Feierabendbier. Mark zögerte. >>Geht so. Ich hatte mir mehr davon erhofft. Jetzt bin ich noch unsicherer, ob ich sie fragen soll. << - >>Ob ist ja wohl hoffentlich keine Frage! Nur wann, das ist schwierig. << Mark nickte zustimmend.  Er machte sich fast pausenlos Gedanken über diese Sache. Wann und wie und wo …
>>Frag doch mal ihre Freundinnen, ob sie dir weiterhelfen können. << riet Sascha. >> Diese Annika zum Beispiel. Das ist doch Peggys beste Freundin, oder nicht? Ihr hat sie sicher schon mal erzählt, wie sie sich das ganze vorstellt. <<  Mark hob die Augenbrauen. Annika! Die war sicherlich nicht die richtige Ansprechpartnerin dafür! Seit ihrem nächtlichen Besuch, hatte er sie nicht mehr gesehen und das war auch ganz gut so. Einzig Peggy stand mit ihr ab und an in Kontakt.
>>Nein, Annika lasse ich da vorerst aus dem
Spiel. << meinte er und Sascha stutzte.
>>Wieso? << - >>Lange Geschichte. << Mark winkte ab, zog sein Handy hervor und rief das Bild eines Verlobungsringes auf, den er kürzlich im Schaufenster eines Juweliers entdeckt und fotografiert hatte. Er war bislang sein heißer Favorit. Silbern, unwahrscheinlich dünn und schmal und mit einem glänzenden Brillanten in der Mitte eingefasst. Er zeigte Sascha das Foto, der einen bewundernden Blick darauf war. >>Wow! Also damit sagt sie garantiert Ja! << - >>Ich hab ihn noch nicht gekauft. << - >>Kann ich verstehen. << murmelte Sascha und deutete auf den Preis, der ebenfalls auf dem Bild zu erkennen war. Mark war sich durchaus bewusst, in welchen Preisklassen er sich hier bewegte, aber dennoch … >>Für Peggy würde ich Zehn mal so viel
ausgeben. << sagte er entschlossen und betrachtete den Ring noch eine Weile. Er stellte sich vor, wie er wohl an Peggys schlanken Fingern aussehen würde und sein Herz zog sich zusammen. Der Gedanke war einfach zu schön!

>>Irgendwann wird der Moment schon kommen!<< war sich Sascha sicher und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. Mark atmete tief durch und nickte. >>Ja. Bestimmt. << Sie stießen mit ihren Bierflaschen an. Von irgendwo her erfüllte Grillgeruch die laue Abendluft. Der Sommer rückte immer näher.


Das Cafè war voll. Viel zu voll. Es war reines Glück gewesen, dass Peggy noch einen Platz erwischt hatte, an dem sie nun saß und ihre Vorlesungsnotizen studierte. Gerne hätte sie sich nach draußen in die Sonne gesetzt, doch natürlich war auch da jeder Tisch besetzt und nun musste sie also mit dem hier vorlieb nehmen. Sie sah kurz auf und schaute sich um. Verrückt, bis vor einiger Zeit hatte sie selber noch hier gearbeitet, die Gäste bedient, die Tische gesäubert und Unmengen an Geschirr durch die Gegend getragen, stets um Höflichkeit und Professionalität bemüht. Ob sie heute noch die Nerven für diesen Job haben würde, wagte sie zu bezweifeln. Es war schon richtig gewesen, dass sie damals gekündigt hatte, und doch erhielt sie von Maja, ihrer ehemaligen Chefin, immer noch einen kleinen Rabatt, wenn sie sich ihren geliebten Cappuccino bestellte, was Peggy wahnsinnig nett von ihr fand.
Ihr Handy klingelte in ihre Gedanken hinein. Sie zog es hervor und erkannte die Nummer ihrer Mutter auf dem Display.
>>Hallo Mama. << ->>Hallo, mein Schatz! Gut , dass ich dich erreiche. <<->>Ich hab eigentlich gar keine Zeit. Ich muss Unterlagen für die Uni vorbereiten. << - >>Es ist aber wichtig.<< beharrte ihre Mutter und Peggy verdrehte die Augen. Tja, Natascha konnte man eben nicht so einfach abwimmeln.
>>Dr. Berger hat heute bei uns angerufen und sie möchte dich dringend sprechen. << sagte Natascha, Peggy runzelte die Stirn. Dr. Berger? Sie kannte keine Dr. Berger. >>Keine Ahnung, wer das ist. << - >>Du kennst sie. Das ist die Tierärztin, die auch dein Pflegepferd mit behandelt. << erklärte Natascha und Peggys Mine erhellte sich. Natürlich, Frau Dr. Berger! Aber sie hatte schon Ewigkeiten nichts mehr von dieser Dame gehört, genauso wenig, wie sie sich angemessen um das Pferd gekümmert hatte. Das schlechte Gewissen stieg in ihr auf. >>Achso die. Was wollte sie denn?<< Peggy drehte sich ein Stück zur Seite und drückte das Handy fester ans Ohr. Es war so laut um sie herum, dass sie Mühe hatte, ihre Mutter zu verstehen. >>Ich weiß es nicht. Sie hat nur gesagt, dass du sie zurückrufen sollst. Und es klang dringend. Sie wusste ja nicht, dass du nicht mehr Zuhause wohnst und hat deswegen unsere Nummer gewählt in der Hoffnung, dich zu erreichen. << Peggy nickte. Irgendwo hatte sie die Nummer der Ärztin auch mal aufgeschrieben, aber selbst wenn sie diese nicht mehr finden würde, wäre es sicherlich ein leichtes, sie herauszufinden, dem Internet sei Dank.
>>Okay, ich melde mich bei ihr. Danke. << sagte Peggy. >>Kein Problem. Wie geht es dir sonst so?<< wollte ihre Mutter wissen, doch Peggy hatte weder die Lust, noch die Zeit , noch war das hier der geeignete Ort für ein ausführliches Gespräch. >>Mir geht’s gut. Aber ich habe wirklich viel zu tun. Ich rufe dich morgen nochmal an, ja?<< - >>In Ordnung. Wie du möchtest. << erwiderte Natascha sanft und einen Moment lang war Peggy ihr dankbar, dass sie offensichtlich Verständnis dafür zeigte, wenn sie anderes im Kopf hatte, als ein Mutter-Tochter-Geplänkel.
>>Grüß Papa. << - >>Mache ich. Und du grüß mir Mark, und die Kleine.  Und gib ihr einen Kuss von mir. << - >>Wird gemacht. << lächelte Peggy und beendete wenig später das Gespräch. Ihre Mutter schien mehr und mehr in der Oma-Rolle aufzugehen.
Sie durchsuchte die Kontaktliste ihres Handys nach der Nummer der Tierärztin, wurde jedoch nicht fündig. Wahrscheinlich hatte sie sie nur noch in ihrem alten Handy gespeichert und das lag bei ihren Eltern. Sie überlegte, schnell zu ihnen zu fahren, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder. Ich werde die Nummer später suchen, dachte Peggy und beugte sich dann wieder über ihre Unterlagen. Plötzlich hatte sie es noch eiliger, fertig zu werden, denn sie wollte endlich mal wieder zum Stall fahren und ihr Pferd sehen. Und das am besten noch heute Nachmittag.

So geschah es auch. Nachdem sie ihre Arbeit beendet und die Vorlesungen zusammengefasst hatte, machte sie sich zu Fuß auf den Weg zu dem Gestüt, das unweit der Innenstadt gelegen war.  Als sie den Hof betrat, kamen alte Erinnerungen in ihr hoch. Früher war sie oft hier gewesen. Wie hatte sie sich gefreut, als ihre Eltern ihr damals die Erlaubnis gegeben hatten, ein Pflegepferd halten zu dürfen! Das Reiten war für sie einfach das Größte gewesen. Heute mochte sie es immernoch, aber sie hatte schon lange nicht mehr im Sattel gesessen und war sich nicht sicher, ob sie sich das noch zutraute.
Peggy überquerte den Hof, ging an der großen Reithalle vorbei und gelangte schließlich zu den Stallungen. Es schien beinahe so, als hätte sich in all der Zeit hier nichts verändert, es sah alles so aus wie damals, wie Peggy mit einem Lächeln feststellte. Sie betrat den Stall und der altbekannte Geruch ließ sie erneut gedanklich in die Vergangenheit zurückkehren. Sogar die Box, in der ihr Pflegepferd stand, war noch die gleiche geblieben. *Davina*stand auf einem kleinen Messingschild, das vom Rost schon deutlich angegriffen war. Davina, ihr Pflegepferd! Peggy freute sich sehr, als sie das Tier nach all der Zeit wiedersah. >>Hallo, meine Hübsche. Na, kennst du mich noch?<< sagte sie leise, als sie die Stalltür öffnete und in die Box trat.  Vorsichtig näherte sie sich dem Tier, doch sie wusste, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Davina war schon immer ein sehr zutrauliches Pferd gewesen und hatte anscheinend nichts von dieser Art verloren, denn sie scheute kein bisschen, als Peggy schließlich vor ihr stand und ihren Rücken streichelte. Sie stand ganz ruhig da. Peggy spürte, wie unendlich lieb sie dieses Tier auch nach all den Jahren noch immer hatte! Umso mehr tat es ihr leid, es so missachtet zu haben. >>Ich bin ewig nicht mehr hier gewesen. Entschuldige bitte. << sagte sie. >>Aber ich weiß, dass du hier im Stall viele Leute hat, die sich gut um dich kümmern. << Lars, zum Beispiel. Der Pferdewirt, der hier arbeitete und den Tieren immer etwas mehr Futter gab, als eigentlich vorgesehen war. Obwohl Peggy bemerkte, dass Davina deutlich schlanker war, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte. Oder der alte Johann, dem Unsauberkeit ein Graus war und der deshalb täglich ausmistete. Ob sie alle wohl noch da waren?
Da vernahm Peggy plötzlich Geräusche hinter sich und drehte sich um. Eine Frau mittleren Alters stand vor ihr, mit rot-braunen Locken, einer schmalen Statur und einer kleinen Aktentasche in der Hand, deren Leder schon so brüchig und abgewetzt aussah, dass man meinen konnte, sie würde jeden Moment auseinander fallen. Die Frau schaute Peggy ein wenig nachdenklich an, dann lächelte sie zaghaft. >>Peggy?<< - >>Frau Doktor Berger, hallo. << Auch Peggy erkannte sie sofort wieder. Sie hatte sich ebenfalls kein bisschen verändert, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Und das war bei irgendeiner Untersuchung von Davina gewesen. Es war Jahre her!
>>Meine Güte, ich hätte dich ja kaum wiedererkannt. << lachte die Ärztin, als sie Peggy die Hand reichte. >>Wo ist das kleine Mädchen geblieben, das sich so diebisch auf ihren ersten Ausritt gefreut hat?! << Peggy musste ebenfalls lachen und hob die Schultern. >>Das steht vor Ihnen. Nur ein wenig größer. << ->>Und hübsch bist du geworden! Noch hübscher, als damals. << Peggy lächelte dankend. Was sollte man darauf schon antworten?
>>Meine Mutter hat mir ausrichten lassen, dass sie mich sprechen wollten. << sagte sie stattdessen und registrierte den Anflug von Ernsthaftigkeit in dem Gesicht der Tierärztin, die nickte und mit dem Kopf nach draußen deutete. >>Am besten wir gehen in Aufenthaltsraum. << Peggy folgte ihr und irgendwie bekam sie mehr und mehr ein ungutes Gefühl, je näher sie dem besagten Raum kamen, in dem es nichts weiter als ein paar Stühle, einen Tisch und einen kleinen Kaffeeautomaten gab. Dr. Berger bedeutete Peggy, Platz zu nehmen. >>Ich freue mich, dass wir uns mal wiedersehen. << begann sie, für Peggy recht unerwartet das Gespräch. Diese nickte. >>Ja, ich mich auch. Ist ja eine ganze Weile her. Eigentlich wollte ich Sie später anrufen, aber dass wir uns nun unverhofft treffen … << - >>Wie geht es deinen Eltern?<< - >>Gut, danke. Ich bin mittlerweile aber schon von Zuhause ausgezogen und sehe sie nicht mehr so häufig. << - >>Ja, aus Kindern werden Leute. Das sehe ich an meinem Sohn jeden Tag. << erwiderte Dr. Berger ein bisschen wehmütig. Peggy versuchte, den Grund für diese Unterredung herauszufinden. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso die Ärztin sie so dringend sprechen wollte. >>Also, worum geht es denn?<< fragte sie neugierig und erkannte erneut diesen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht ihres Gegenübers. Offenbar suchte Dr. Berger nach den richtigen Worten.
>>Ich war vor ein paar Tagen schon einmal hier, bei Davina. Der Besitzer des Stalles hat mich kontaktiert, weil sie in der letzten Zeit wohl häufiger das Futter verweigert hat und allgemein sehr verändert wirkt. << Peggy hörte aufmerksam zu. Das Futter verweigert? Sie dachte an Davinas auffallend schlanke Gestalt zurück und schluckte. >>Ich habe sie letzte Woche untersucht, eine Biopsie der Lymphknoten vorgenommen… << fuhr Dr. Berger fort und nun war alle Leichtigkeit aus ihrem Gesicht verschwunden. >>Dein Pferd ist krank, Peggy. Sehr krank! Zum jetzigen Zeitpunkt, deutet alles auf eine Krebserkrankung hin.<< Peggy erschrak zu Tode! Krebs? Davina sollte sterbenskrank sein? Das war doch nicht möglich! Sie war doch immer so ein stolzes, prächtiges Pferd gewesen! Ängstlich wartete Peggy ab, was noch folgen würde.
>>Davina hat keinen eingetragenen Besitzer. Du weißt, sie gehört dem Gestüt. Im Grunde bist du diejenige, die es entscheiden  muss. << sagte die Ärztin, doch in Peggys Kopf wirbelten alle Worte nur so hin und her. >>Was denn entscheiden?<<- >>Entscheiden, ob Davina eingeschläfert wird, oder nicht. <<
Es war ihr, als würden die Wände um sie herum zusammenbrechen. Peggy starrte Dr. Berger fassungslos an und war unfähig zu antworten. Einschläfern? Das konnte sie unmöglich ernst meinen!
>>Das Tier ist in einem, für ein Pferd ungewöhnlich hohem Alter und diese Krankheit tritt leider sehr häufig auf. Im Endeffekt wird es ihr viel Leid ersparen. Wir müssen diese ganzen Formalitäten nicht hier und jetzt besprechen. Ich wollte nur, dass du weißt, was auf dich zukommen wird … << - >>Niemals!<< fiel Peggy ihr ins Wort, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. >>Niemals gebe ich meine Zustimmung für dieses grausamen Vorhaben! << Dr. Berger hörte die Entschlossenheit heraus, dennoch blickte sie Peggy machtlos an. >>Es wird kein Weg daran vorbei führen. << - >>Doch! Wir können sie therapieren! Oder glauben Sie, ich lasse mein Pferd einfach so tot spritzen?! << - >>Und glaubst du, ich hätte nicht längst alle Möglichkeiten überprüft?<< entgegnete Dr.Berger mit genau derselben Intensität, die Peggy ihr entgegen gebracht hatte. >>Glaubst du, mir fällt es leicht, dir so etwas mitzuteilen? Ich hätte es nicht getan, wenn es nicht wirklich unabänderlich wäre!<< Peggy spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie zitterte am ganzen Körper. Das durfte alles nicht wahr sein!
>>Wenn wir sie am Leben lassen, wird sie viel mehr leiden und viel größere Schmerzen haben. Sie wird irgendwann einfach gar nichts mehr fressen, sie wird sich nicht mehr bewegen können … << - >>Hören Sie mit diesen Schauermärchen auf!<< fuhr Peggy sie an, als die Tränen sich schon ihren Weg über ihr Gesicht suchten. >>Ich weiß, dass es noch andere Möglichkeiten gibt. Ich weiß es einfach! Und ich werde sie mit oder ohne Ihre Hilfe herausfinden. << Dr. Berger blickte sie ruhig und besonnen an. Nur allzu gut kannte sie diese Reaktion. Von Tierbesitzern, die das offensichtliche nun einmal nicht wahrhaben wollten. Ihr selber würde es wahrscheinlich nicht anders gehen.
>>Ich kann verstehen, dass du so reagierst. << sagte sie mitfühlend. >>Denk aber bitte über meine Worte nach, ja? Und triff die richtige Entscheidung! << - >>Die habe ich bereits getroffen. << entgegnete Peggy trotzig. Und sie versuchte die Ahnung, dass Dr. Berger recht behalten könnte, so weit es ging zu verdrängen!

Mit hängenden Schultern, machte Peggy sich wenig später auf den Weg nach Hause. Sie hatte noch eine Weile im Stall gesessen, Davina betrachtet, wie sie so ruhig und friedlich da stand, ab und zu in der Box umher ging und zwischendurch ein leises Schnauben von sich gab. Jedes Mal war es Peggy durch und durch gegangen. Wie sollte sie die Entscheidung treffen, dieses Geschöpf einfach sterben zu lassen!
Irgendwann kam sie Zuhause an, kramte in der Tasche nach ihrem Schlüssel und trat schließlich ein. Niemand war da. Die ganze Wohnung war leer, schrecklich leer! Auf dem Küchentisch fand sie einen Zettel von Mark:

* bin mit Emelie und Sascha im Park. Komm nach, wenn du möchtest. Ich liebe dich  *

Peggy atmete tief durch und fuhr sich durch das Gesicht. Ihr war jetzt nicht nach einem fröhlichen Nachmittag im Park zumute. Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und einfach alles vergessen, was sie erfahren hatte.  Aber ob das der richtige Weg
war …?

Ich werde hingehen, dachte Peggy kurz entschlossen, schlüpfte in ein Paar bequemere Schuhe und atmete einmal tief durch, um klarere Gedanken fassen zu können. Ich werde hingehen, vielleicht lenkt mich das ein wenig ab.
So betrat sie wenig später den Park, in dem sich an diesem sonnigen Nachmittag viele Leute tummelten, sich sonnten, spazierten, das Wetter genossen. Sie hielt nach Mark ausschau und hatte ihn schon bald entdeckt. Er saß neben Sascha auf einer Parkbank, die vis a vis einem Sandkasten gelegen war. Und in diesem Sandkasten, sah Peggy ihre kleine Tochter sitzen, wie sie hingebungsvoll einen kleinen roten Plastikeimer voll Sand füllte, wieder ausschüttete und von vorne begann. Mit einer Engelsgeduld, Konzentration und ohne den leisesten Anschein von Langeweile. Unweigerlich musste Peggy bei diesem Anblick lächeln. Wie sehr sie dieses Kind doch liebte! Viel zu schnell waren die ersten Babymonate vergangen! Ein wenig erschrocken stellte sie fest, wie groß Emelie schon geworden war. Wo war das winzige, zerbrechliche Wesen geblieben, das sie vor kurzem noch in ihren Armen gewogen hatte!
Peggy war so in Gedanken, dass sie zunächst gar nicht mitbekam, wie Sascha und Mark ihr mehrmals zuwinkten. Irgendwann bemerkte sie die beiden und schlenderte auf sie zu. Sie zwang sich zu einem fröhlichen Gesicht, denn sie wollte jetzt nicht über diese unsagbar traurige Geschichte mit Davina sprechen. Später vielleicht, aber nicht jetzt.
>>Hey. << begrüßte Peggy sie und gab Mark einen flüchtigen Kuss auf den Mund, ehe Sascha bereitwillig ein Stück zur Seite rückte und Peggy ebenfalls auf der Bank Platz nahm.
>>Schön, dass du noch gekommen bist. << sagte Sascha und bot ihr ein Stück Kuchen an, den er in einer kleinen Tupperbox mitgenommen hatte, doch Peggy lehnte ab. >>Danke, ich hab keinen Hunger. << - >>Alles klar bei dir?<< fragte Mark und sah sie prüfend an. Er spürte, dass irgendetwas in ihr vorging. Sie war anders, als sonst. Sie wirkte ruhiger, in sich gekehrter …. Doch Peggy wahrte die Fassade und versicherte mit einem Lächeln, dass alles in Ordnung war. Und Mark beschloss, sich vorerst keine Gedanken zu machen. Vielleicht könnte er ja später noch einmal nachharken, ob mit ihr wirklich alles Okay war.
>>Und Emelie geht’s gut, ja?<< versuchte Peggy das Gespräch von sich abzulenken, Mark lachte. >>Siehst du doch! Sie hat den Eimer und die Schippe seit einer Stunde nicht aus der Hand gelegt. << - >>Stimmt. Wir wissen zwar noch nicht genau, was sie vorhat, aber es scheint ihr großen Spaß zu machen, den Sand ein – und auszukippen. << fügte Sascha hinzu. >>Die Kleine ist echt wahnsinnig süß! Und ganz schön gewachsen!<< ->>Ja, ich hab eben auch festgestellt, wie groß sie geworden ist. << nickte Peggy wehmütig. Mark verdrehte die Augen.
>>Ihr tut ja gerade so, als sei sie schon erwachsen! Hört bloß auf damit! Wenn es nach mir ginge, könnte sie ewig so klein bleiben! So klein und knuffig, dass man sie knuddeln kann, wann immer man will!<< - >>Guter Punkt!<< sprang Peggy plötzlich auf, lief zu dem Sandkasten herüber und hob ihre Tochter auf die Arme. Wider erwarten, ließ diese es widerstandslos geschehen. Anscheinend waren Sand, Eimer und Schippe augenblicklich vergessen, als sie ihre Mutter wahrnahm. Glücklich darüber, kehrte Peggy zu den anderen zurück, setzte sich und drückte Emelie fest ansich. Sie würde sie niemals hergeben! Nie, für keinen Preis der Welt! >>Du bist ganz schön schmutzig. << stellte Mark nach einer Weile mit einem Blick auf die Kleine fest und wischte ihr ein wenig Schmutz aus dem Gesicht.  >>Vielleicht sollten wir dich heute Abend mal in die Badewanne stecken. <<  Er warf Peggy einen Blick zu, den sie jedoch nicht mitbekam. Sie wirkte irgendwie geistesabwesend, wie sie da so gedankenverloren über Emelies zarten blonden Haarschopf strich. Irgendetwas musste geschehen sein, aber er wollte sie nicht drängen, sich ihm mitzuteilen. Schon gar nicht hier, in diesem überfüllten Park.

 >>Es ist echt warm geworden! Hast du an Emelies Cappy gedacht?<< fragte Peggy und Mark biss sich auf die Lippe. Verdammt, die hatte er vergessen. Schuldbewusst schüttelte er den Kopf und Peggy versuchte, ihren Unmut darüber nicht allzu deutlich werden zu lassen. >>Dann sollten wir sie lieber aus der Sonne schaffen. << sagte sie und legte schützend die Hand auf Emelies Kopf, der sich schon ziemlich heiß anfühlte.
>>Gehen wir noch ein Eis essen? Ich lad euch ein!<< schlug Sascha vor und Mark streckte den Daumen in die Höhe. Auch Peggy nickte und erhob sich von der Bank. Ihr war ganz und gar nicht nach Eis essen zu Mute, doch auch das wollte sie nicht nach außen zeigen. Was würde es bringen, die Beiden jetzt mit runterzuziehen?


>>Und, willst du drüber reden?<< fragte Mark sanft, als sie wenige Stunden später wieder Zuhause waren. Sowohl im Eiscafe, als auch auf dem Heimweg, als auch gerade eben, als sie Emelie gebadet hatten, hatte Peggy derart wortkarg und abwesend gewirkt, dass Mark sich zunehmend Sorgen machte. Jetzt saß sie neben ihm auf der Couch im Wohnzimmer und hatte nach wie vor diesen merkwürdigen Ausdruck in den Augen, als sie ihn ansah. >>Worüber reden?<< - >>Das frage ich dich. << Doch entweder konnte, oder wollte sie ihn nicht verstehen und erwiderte nur stumm seinen Blick. Mark nahm ihre Hand. Sie war ganz klamm. >>Dass mit dir irgendetwas nicht stimmt, weiß ich seit dem Moment, als du zu uns in den Park gekommen bist. Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Inzwischen erkenne ich ganz gut, wenn dich etwas belastet. << Er sah, wie sie gegen die Tränen ankämpfte. >>Ich hoffe du weißt, dass immer zu mir kommen kannst. Und wenn du nicht reden willst, ist das auch in Ordnung. Deswegen frage ich ja, damit ich weiß, woran ich bin. <<
Peggy nickte. Natürlich wusste sie das! Natürlich wusste sie, dass Mark ihr immer helfen würde, wenn sie in Schwierigkeiten war. Doch in diesem Fall war sie sich nicht sicher, ob er etwas ausrichten konnte. Es schien alles so ausweglos.  Sie schniefte und holte tief Luft. Der Gedanke daran, ihr Herz ausschütten zu können, tat wahnsinnig gut. Und so erzählte sie von all dem, was sich am Vormittag zugetragen hatte: angefangen von dem Gespräch mit ihrer Mutter, über den Besuch im Stall, bis hin zu der Unterredung mit der Tierärztin und ihrer düsteren Prognose, was Davina betraf. Und Mark hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Auch wenn sie nicht allzu viel Zeit im Stall verbrachte, er wusste, wieviel ihr das Pferd bedeutete! Und dass das Tier jetzt so schwer krank war, war ohne Zweifel ein schwerer Schlag für Peggy! Fieberhaft überlegte er, wie er ihr helfen konnte, doch ihm fiel beim besten Willen keine Lösung ein. >>Du kannst nichts für mich tun. << schien Peggy seine Gedanken zu erraten, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. >>Es ist einfach eine verdammt schwierige Entscheidung. Und die muss ich nun mal alleine treffen. << - >>Ja, da hast du wahrscheinlich recht. << nickte Mark. >>Ich weiß auch nicht, was das Richtige ist. Ich weiß nicht, ob es vernünftig ist, sie weiterleben zu lassen und ich weiß nicht, ob es richtig ist, es zu beenden. Ich kann und will dir keine Ratschläge geben, Peggy. Ich hoffe, du verstehst das. << Peggy wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht und nickte. >>Klar, das verstehe ich. Vielleicht sollte ich eine zweite ärztliche Meinung einholen. Andererseits: wenn dabei dasselbe herauskommt, werde ich wohl noch verzweifelter sein!<< Erneut kamen ihr die Tränen. Mark zog sie in seine Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie tat ihm so unendlich leid!

Schon wieder so ein extrem warmer Tag! Annika schloss für einen Moment die Augen, lehnte sich zurück und wünschte sich nicht zum ersten Mal einen Ventilator auf dem Empfangstresen der Tierarztpraxis. Die Klimaanlage an der Decke verschaffte leider nur geringfügige Abkühlung.  In dem Zimmer stand die Luft, und dabei hatte der Sommer noch gar nicht richtig angefangen!
Seufzend richtete sie sich wieder auf. Sie musste sich zusammennehmen, das wusste sie. Immerhin war das hier ihr Arbeitsplatz und jeden Moment konnten Kunden mit ihren kleinen und manchmal auch ziemlich großen Zwei – oder Vierbeinern hereinkommen.  Und da kam es sicherlich nicht so gut an, wenn sie sich hier auf dem Schreibtischstuhl fläzte.
Hoffentlich darf ich bald wieder ins Untersuchungszimmer, dachte sie bei sich, während sie ein paar Akten sortierte. Das fand sie nämlich wesentlich spannender, als diese Zettelwirtschaft hier! Aber ihre Ausbildung sah nun einmal vor, dass sie alle Bereiche kennenlernte, also auch den ganzen Büro – und Papierkram, bei dem ihre Chefin peinlich genau auf Ordnung achtete, was Annika manchmal ziemlich schwer fiel, denn sie war eigentlich eher der chaotische Typ. Peggy könnte das besser, als ich, schoss es ihr durch den Kopf und lächelte dabei. Sie dachte an die Schulzeit zurück, in der Peggy all ihre Unterlagen und Mitschriften stets vorbildlich beisammen hatte, sie selbst dagegen manchmal in einem heillosen Durcheinander versunken wäre, hätte Peggy ihr nicht geholfen, alles wieder zu sortieren. Da war so mancher Nachmittag für draufgegangen. Anschließend hatten sie sich immer mit einem Schokoladeneis belohnt … erneut lehnte Annika sich zurück. Das waren wirklich schöne Zeiten gewesen. Irgendwie unbeschwerte Zeiten. Zeiten, in denen man vom wirklichen, vom echten Leben noch beinahe unberührt war. Das Einzige, was einen da beschäftigt hatte, waren die Schulnoten, die Freunde, Jungs, die erste große Liebe … Annika zwang sich, ihre Gedanken zu unterbrechen. Sie würden nur unweigerlich wieder in eine falsche, schmerzhafte Richtung führen!
Das Windspiel über der Eingangstür läutete. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand eingetreten war. Annika war dankbar für die Ablenkung und stand auf, um den Ankömmling begrüßen zu  können. Und sie war ziemlich überrascht, als sie ihre Freundin erkannte. >>Peggy! Mit dir hätte ich jetzt am wenigsten gerechnet!<< - >>Gleichfalls. Was machst du hier?<< erwiderte Peggy, nicht weniger erstaunt. Sie hatte sich heute endlich ein Herz gefasst und war zu Dr. Bergers Praxis gefahren, um der Ärztin ihre Entscheidung mitzuteilen. Es fühlte sich an, wie der Gang nach Canossa! Und jetzt stand sie Annika gegenüber, die einen kurzen weißen Kittel über ihrem T-Shirt trug, eine helle Hose und weiße Turnschuhe. >>Ich arbeite hier. << erklärte sie sich wie selbstverständlich.  >>Du weißt doch, dass ich noch in der Ausbildung bin. << - >>Ja klar. Aber ich wusste nicht, dass du hier in dieser Praxis
bist. << Nach all dem, was geschehen war, wollte Peggy es sich kaum eingestehen, aber sie war unendlich froh, Annika zu sehen! Es gab ihr irgendwie ein bisschen Kraft! Und die konnte sie mehr als gut gebrauchen.

>>Ist Dr. Berger da? Ich muss dringend mit ihr sprechen!<< sagte Peggy schließlich, Annika nickte. >>Sie ist hinten im Untersuchungszimmer. Aber wieso willst du sie denn sprechen? Habt ihr jetzt plötzlich Mäuse in der Wohnung, oder sowas?<< schmunzelte sie, doch sie bemerkte, dass Peggys Mine sich nicht im Mindesten zu einem Lächeln veränderte. Sie war anscheinend immernoch nicht gut auf sie zu sprechen, wegen dieser unsäglichen Aktion von neulich! Und das konnte sie sogar verstehen. Sie schluckte. >>Also falls du mir noch nachträgst, was letztens passiert ist … << - >>Man, diese dämliche Nacht-und Nebelaktion von dir ist mir doch scheißegal!<< fiel Peggy ihr unwirsch ins Wort und Annika zuckte zusammen. So hatte sie ihre Freundin noch nie erlebt. Aber Peggy merkte selber, dass sie zu weit gegangen war. Sie seufzte, sah Annika entschuldigend an und versuchte, sich zu erklären. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, hatten ihr die Tränen schon wieder den Hals zugeschnürt. Sie wandte sich ab und ließ sich auf eines der kleinen grauen Ledersofas fallen, die zusammen mit einem kleinen Tisch und ein paar Stühlen anscheinend als Wartebereich arrangiert worden waren. Peggy verbarg das Gesicht in den Händen und verstummte. Annika erschrak bei ihrem Anblick, kam um den Tresen herumgelaufen und setzte sie sich neben sie.
>>Was ist denn passiert?<< fragte sie zaghaft und Peggy brauchte noch eine Weile, ehe sie den Kopf hob und Annika ansah. >>Erinnerst du dich noch an Davina?<< Annika nickte eifrig. >>Natürlich! Wie könnte ich unsere legendären Nachmittage im Stall vergessen! Ich hatte ja eine heidenangst vor Pferden, aber Davina hat mich davon befreit. << Peggy lächelte traurig. >>Ich habe sie neulich endlich mal wieder besucht. Ihr geht’s nicht
gut. << Peggy brachte die Worte kaum über die Lippen, so sehr schmerzte es sie. >>Dr. Berger hat sie untersucht.  Sie ist krank. Und sie wird nicht wieder gesund werden. << Annika riss die Augen auf. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie ahnte, worauf Peggy hinauswollte, oder vielmehr musste. >>Offiziell gehört Davina niemandem.  << fuhr Peggy fort. >>Sie ist mein Pflegepferd. Also muss ich entscheiden, ob sie … << - >>…eingeschläfert wird?<< führte Annika ihren Satz entsetzt zuende. Peggy nickte und versuchte mit aller Macht, nicht gleich wieder loszuheulen. >>Dieses wunderschöne Tier?<< Annika war fassungslos. >>Was hat sie denn?<< - >>So wie ich das verstanden habe, eine Krebserkrankung. Aber egal, was es ist: man kann es jedenfalls nicht heilen. << antwortete Peggy mit dünner Stimme. Ihr brach es das Herz, als sie sich all dem erneut gewahr wurde!  Verzweifelt sah sie Annika an. >>Verstehst du, was das heißt? Verstehst du, was mir da abverlangt wird? Ich soll über das Leben dieses Tieres entscheiden! Meines Tieres! Weißt du, wie furchtbar das ist?<< Annika nickte düster, auch wenn sie sich nur ansatzweise vorstellen konnte, wie es Peggy gerade gehen musste. Es war schrecklich!

>>Ich traue mich ja kaum zu fragen, aber hast du dich schon entschieden?<< - >>Ja. Deswegen bin ich ja hier. << erwiderte Peggy. >>Kannst du Dr. Berger bitte bescheid sagen, dass ich da bin? Sie wird sich ja denken können, worum es geht. << - >>Klar, mache ich. << nickte Annika und erhob sich. Sie ging zu einer Tür am anderen Ende des Raumes, klopfte und öffnete sie einen Spalt breit. Peggy hörte sie irgendetwas murmeln und eine Stimme, die etwas erwiderte. Dann war Annika auch schon wieder bei ihr. >>Sie kommt
gleich. << flüsterte diese und legte Peggy mitfühlend den Arm um die Schultern. Peggy ließ es geschehen. Trotz des Sommertages, war ihr eiskalt geworden. Sie hatte getan, was von ihr verlangt worden war: eine Entscheidung getroffen. Ob es die Richtige war, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass ihr Herz an diesem Pferd hing! Und das war das Einzige gewesen, was ihr geholfen hatte, den richtigen Weg zu wählen.