Die Nachhilfestunde 57: die Ertrinkende

 

Peggy hatte Sinas Anruf schnell wieder vergessen. Schließlich hatte sie den Kopf mit genug anderen Dingen voll: die Sorge um Davina, die ständige Angst, dass heute nun der Tag gekommen war, an dem Dr. Berger sich melden und den Termin für die Einschläferung mitteilen würde (Peggy verdrängte diese Tatsache so gut es ging, aber dennoch war sie allgegenwärtig), ihr Studium und Emelie, die zur Zeit lebhafter war, als jemals zuvor und ihre Eltern ganz schön auf Trab zu halten wusste!
Um sich ein wenig abzulenken, schlenderte Peggy ein paar Tage später durch die Stadt. Allein. Mark war Zuhause geblieben und es sich mit Emelie gemütlich gemacht, denn das Wetter verlockte eigentlich nicht gerade zu einem Spaziergang: es war kühl, windig und nieselig. Kein schöner Sommertag! Aber Peggy wollte unbedingt an die frische Luft und so war sie eben alleine losgezogen. Dennoch spürte sie, wie sehr ihr Mark fehlte. Es war verrückt, waren sie doch schließlich erst eine Stunde voneinander getrennt. Aber sie hatte sich so daran gewöhnt, alles mit ihm zu teilen und zu erleben, dass es einfach merkwürdig war, ohne ihn unterwegs zu sein. Als wäre sie nicht komplett, als würde eine Hälfte von ihr fehlen. Und irgendwie war es ja auch so. Ich werde ihm was schönes kaufen, dachte Peggy bei sich, als sie in der Stadt angelangt war, in der sich trotz des Wetters einige Menschen tummelten. Und Emelie würde sie auch eine Kleinigkeit mitbringen … aber was?
>>Peggy! Gott sei Dank, endlich treffe ich dich mal!<< hörte sie da eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Vor ihr stand Sina, in ein graues Regencape gehüllt, und schaute sie erleichtert an. >>Hallo Sina. << antwortete Peggy kühl und trat einen Schritt zurück. Sie war nicht gerade erfreut, sie wiederzusehen und konnte sich nicht erklären, wieso es Sina offenbar ganz gegenteilig ging. >>Ich hab versucht, dich anzurufen. Wieso gehst du denn nicht an dein Handy?<< fragte Sina und der leicht vorwurfsvolle Ton, schmeckte Peggy ganz und gar nicht. Wut stieg in ihr auf. >>Sei froh, dass ich deine Nummer überhaupt noch habe! Eigentlich hätte ich sie schon längst löschen und mir eine neue zulegen müssen, damit du mich nicht mehr kontaktieren kannst!<<
Sie spürte förmlich, wie Sina zusammenzuckte und augenblicklich tat es ihr schon wieder leid. Aber das, was Sina damals getan hatte, war einfach so ungeheuerlich gewesen, dass es jetzt erneut in ihr hochkochte.

>>Können wir uns unterhalten? << bat Sina, doch Peggy verneinte. >>Ich wüsste nicht, was wir uns noch zu sagen hätten. << - >>Bitte! Es ist wirklich wichtig!<< Sinas Augen sahen sie beinahe flehend an. Erst jetzt fiel Peggy auf, dass sie irgendwie anders wirkten, als früher. Lange nicht mehr so schön und unergründlich. Aber das lag sicher daran, dass sie mittlerweile Sinas wahres Gesicht kannte. Dennoch war nun ihre Neugier geweckt, sie seufzte. >>Kaffee?<< Sina atmete auf und nickte. >>Kaffee!<<

Sie betraten das nächstgelegene Cafe und saßen sich nun an einem der Tische am Fenster gegenüber, draußen hasteten die Menschen an ihnen vorbei, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Peggy musterte Sina mit einem schnellen Blick und erneut fiel es ihr auf: sie wirkte ganz und gar verändert, ihr schmales Gesicht hatte eine blasse, beinahe ungesunde Farbe, sie hatte die Hände in die Ärmel ihres einfachen grauen Pullis geschoben, wirkte nervös und fahrig. So hatte Peggy sie noch nie gesehen. Sie hatte sie ja immer für ihre blendende Erscheinung mit dem übergroßen Selbstbewusstsein beneidet. Und nun …
>>So kenne ich dich gar nicht. << sagte Peggy, Sina schaute sie an. >>Wie denn?<< - >>Na, so eben. Ich weiß auch nicht, irgendwie bist du anders, als
damals. << Sina schluckte und wandte den Blick ab. Hatte sie eben noch so gebrannt, mit Peggy ins Gespräch zu kommen, wirkte sie jetzt eher abweisend und verschlossen. >>Also wenn du mir nicht sagst, was los ist, dann gehe ich wieder. << stellte Peggy klar.
>>Ich kann meine Zeit auch besser verbringen. Und überhaupt... << Sie sah auf die Uhr, es war früher Nachmittag. >>Musst du nicht eigentlich arbeiten?<< - >>Ich hab meinen Job
verloren. << sagte Sina leise. Peggy sah sie eine Weile unschlüssig an. >>Und wieso?<<  Sina schloss die Augen. Ihre zitternden Finger umklammerten die Kaffeetasse, die der Kellner eben vor ihr abgestellt hatte. Peggys Blick fiel auf Sinas Hände, deren Fingernägel früher jeden Tag perfekt manikürt gewesen waren. Heute allerdings, wirkten sie brüchig und abgekaut. Allmählich bekam sie ein sehr ungutes Gefühl. Sie beugte sich vor. >>Wieso hast du den Job verloren, Sina?<< - >>Dr. Graf meinte, jemand, der einen Drogenentzug macht, passt nicht in ihr Vorzimmer. << Sinas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, dennoch hatte Peggy jedes Wort verstanden, und es verschlug ihr die Sprache. Jetzt wurde ihr alles klar: die bleiche Haut, die Augenringe, die Fingernägel, ihre nervöse Bewegungen … sie starrte Sina fassungslos an. Aber eigentlich war es keine so große Verwunderung, schließlich hatte Sina einen sehr leichten Umgang mit diesem Teufelszeug an den Tag gelegt.
>>Also doch mehr, als nur ab und zu mal eine harmlose Partypille, was?<< vermutete Peggy, Sina hob die Schultern. >>Ich bin da irgendwie reingerutscht. Ich konnte nichts dafür. << - >>Du konntest nichts dafür? Das glaubst du doch wohl selber nicht! << entgegnete Peggy ihr und musste sich zusammenreißen, vor Wut nicht aufzuspringen! Typisch Sina, auch jetzt sah sie sich mal wieder in der Opferrolle. >>Ich hab ja versucht, wieder damit aufzuhören. << versicherte Sina, den Tränen nahe. >>Aber das ging halt irgendwann nicht mehr. Ich wollte das doch alles nicht. << Schließlich schluchzte sie tatsächlich auf, doch Peggy widerstand dem Impuls, sich neben sie zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. Sie wollte erst einmal abwarten, was noch folgen würde. Sina wischte sich schniefend die Tränen vom Gesicht, dann sah sie Peggy an. >>Du musst mir helfen, Peggy! Dieser scheiß Entzug macht mich
fertig! << - >>Was ist denn mit deiner tollen Clique? << - >>Ach, die gibt’s doch schon lange nicht mehr. Ich brauche jemanden, der mir zur Seite steht! Wir sind doch Freundinnen!<< - >>Na, das wüsste ich aber!<< entgegnete Peggy und senkte die Stimme, als sie fortfuhr. >>Du hast mir damals Drogen untergejubelt! Du hast mich angebaggert und behauptet, wir hätten mit einander geschlafen, nur um Mark und mich auseinander zu bringen! Ich wüsste nicht, wo man da von Freundschaft reden kann!<< - >>Seid ihr noch zusammen, Mark und du?<< wechselte Sina urplötzlich das Thema und Peggy war für einen Moment lang aus dem Konzept. Sie hatte sich eigentlich gerade richtig in Rage reden wollen, um Sina noch einmal unmissverständlich all ihre Verfehlungen aufzuzeigen. >>Ja, sind wir. Aber lenk doch nicht ab! Sina, falls wir jemals Freundinnen gewesen sind, hast du es mit deiner hirnrissigen Aktion damals ein für alle mal versaut!<<

Sina senkte den Kopf, ihre Haare fielen wie ein dichter Vorhang vor ihr Gesicht. Sie waren nach wie vor lang, aber auch stumpf und glanzlos geworden. Peggy fragte sich, wie lange Sina wohl wieviele Drogen genommen hatte, dass sie jetzt so zerstört aussah.
>>Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. << sagte Sina leise. >>Wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen. Aber das kann ich nicht. Und trotzdem bitte ich dich, mir zu helfen. Ich schaffe das nicht alleine. << - >>Wieso ausgerechnet ich?<< ließ Peggy sich nach wie vor nicht einwickeln. >>Ich habe weiß Gott genug andere Probleme. << - >>Ich hab sonst niemanden.<< Sina sah Peggy geradewegs ins Gesicht, und Peggy konnte sich nicht dagegen wehren, dass irgendwo in ihr ein Funke Mitleid aufkam. Trotz allem. Sie wusste aus damaligen Unterhaltungen, dass Sinas Eltern sehr weit weg lebten und anscheinend hatte sie auch nicht viele Freunde. Und die, die sie gehabt hatte, waren offensichtlich die falschen gewesen. Wahrscheinlich war sie wirklich ganz allein mit ihrer Not.
Peggy sah sie an, lange und nachdenklich. Konnte sie es verantworten, einen Menschen in so einer Lage einfach links liegen zu lassen?
>>Wo wohnst du denn jetzt?<< wollte sie wissen, Sina schnaubte. >>Na,wo wohl? In der Entzugsklinik. Ich hab Glück, dass ich heute mal raus durfte. Ansonsten ist das wie im Gefängnis dort. << Peggy überlief ein kalter Schauer. Entzugsklinik! Wenn sie damals noch länger mit Sina in Kontakt geblieben wäre, würden sie sich jetzt vielleicht ein Zimmer dort teilen. Sie schüttelte den Kopf, um diesen haarsträubenden Gedanken abzuschütteln und fischte ihr Portemonnaie aus der Tasche. Sina schaute alarmiert auf. >>Gehst du schon?<< - >>Wenn du gestattest, ja. << - >>Aber ich kann doch auf deine Hilfe bauen? Bitte, Peggy. Ich muss das wissen!<< - >>Und ich muss erst mit Mark darüber
reden. << antwortete Peggy, als sie das Geld für ihren Milchkaffee abgezählt auf den Tisch legte. >>Schließlich hast du ihm auch ziemlich übel mitgespielt. Mal ganz abgesehen davon, dass ich sowieso nicht weiß, wie ich dir helfen könnte, muss ich das alles erstmal verdauen. Drogen, Entzugsklinik … ich hab ein kleines Kind! Ich will mit sowas nichts zutun haben!<< - >>Du hast was?<< Sina war ebenfalls aufgestanden und schaute Peggy mit offenem Mund an, diese seufzte. >>Ein Kind, ja. Eine Tochter, wenn du es genau wissen willst. Und der würde ich eigentlich gerne all meine Kraft und Aufmerksamkeit schenken, anstatt … << Anstatt zu dir in die Klinik zu fahren und dich im Entzug zu sehen, dachte sie noch, sprach es aber nicht laut aus. Irgendwie erschien ihr das dann doch eine Spur zu gemein. Stattdessen winkte sie ab, schnappte sich ihre Jacke und schaute Sina noch ein letztes Mal an. Sie wirkte wirklich verloren, wie sie so da stand und Peggy anstarrte, als wäre sie ihre letzte Hoffnung. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie hier und heute keine Entscheidung über all das fällen würde!

Als Peggy wenig später wieder Zuhause angelangt war, saß Mark im Wohnzimmer vor dem Laptop und warf hin und wieder einen Blick auf Emelie, die neben ihm auf dem Boden auf ihrer Krabbeldecke lag und mal wieder vor sich hin brabbelte. Mark liebte dieses Geräusch und behauptete immer, er verstünde jedes Wort. Und Peggy ließ ihn in dem Glauben.
Sie zog sich Jacke und Schuhe aus und ließ sich erschöpft neben ihn auf das Sofa fallen, er klappte den Laptop zu und schaute sie lächelnd an. >>Na, so müde vom shoppen?<< ->>Ich war nicht shoppen. << murmelte Peggy und ihr fiel ein, dass sie ganz vergessen hatte, für Emelie und Mark etwas mitzubringen. Naja, dann beim nächsten Mal …
>>Soll ich dir Kaffee machen?<< bot Mark an, doch Peggy lehnte ab. >>Hatte ich gerade schon. << - >>Was ist denn los mit dir? << wollte Mark wissen, als auch diese Antwort ziemlich schlapp ausfiel. Peggy atmete tief durch, setzte sich auf und erzählte, was vorgefallen war. Und mit jedem Satz, wuchs Marks Entsetzen und auch gleichzeitig erneut die Wut auf Sina, dass sie Peggy anscheinend schon wieder in solche Geschichten reinziehen wollte.
>>Sie hofft so sehr, dass ich ihr irgendwie helfen
kann. << schloss Peggy ihren Bericht ab. >>Sie klammert sich an mich, wie eine Ertrinkende. << - >>Naja, du hast ihr hoffentlich klar gemacht, dass sie von dir keine Hilfe zu erwarten hat. << sagte Mark unmissverständlich, doch als er Peggys Blick sah, wusste er, dass sie genau das nicht getan hatte. >>Du willst dich doch nicht wirklich wieder mit dieser Person abgeben?<< - >>Keine Ahnung. Scharf darauf bin ich ganz sicher nicht, aber du hättest sie sehen sollen: sie ist wirklich am Ende. << - >>Selber Schuld, wenn sie sich Drogen reinzieht. << - >>Aber ich kann sie doch nicht einfach so … << - >>Oh doch, das kannst du! Und das wirst du auch! << unterbrach Mark sie. >>Sina soll selber zusehen, wie sie da wieder rauskommt, damit hast du nichts zutun. <<

Peggy schaute ihn an und wusste immer weniger, ob sie dazu wirklich im Stande sein könnte. Vielleicht brauchte Sina ja nur jemandem zum reden, jemanden, mit dem sie sich ab und an mal in der Stadt traf, um auf andere Gedanken zu kommen. Das würde sie doch wohl leisten können, oder?
>>Und wenn ich ihr doch helfen will?<< fragte Peggy und wusste, dass sie sich auf dünnes Eis begab. Aber es musste nun einmal geklärt werden und hinter Marks Rücken wollte sie das Ganze nicht durchziehen.
>>Lass es bleiben!<< erwiderte Mark nachdrücklich, Peggy presste die Lippen zusammen. >>Das ist ja wohl immernoch meine Entscheidung!<< - >>In diesem Falle nicht! In diesem Fall entscheide ich das für uns beide! Sina hat dir wahrlich nicht gut getan. Noch einmal lasse ich das nicht zu. << - >>Das ist doch jetzt was ganz anderes. << antwortete Peggy und wurde böse. >>Sie ist völlig am Boden. Was soll sie da noch für großartigen Schaden anrichten?<< - >>Ich will einfach nicht, dass du Kontakt mit ihr hast. Punkt. << Marks Stimme wurde deutlich bestimmter. >>Du bist Mutter einer Tochter und hast als solche nichts in irgendwelchen Drogenkliniken verloren!<< - >>Entzugsklinik!<< verbesserte Peggy ihn scharf. >>Und ich hatte nicht vor, Emelie da mit hinzunehmen! Ich kann nicht einfach wegsehen, wenn jemand meine Hilfe braucht!<< - >>Ich bitte dich, jetzt fang nicht mit der Mitleidstour an!<< rief Mark und stand auf. Er war sichtlich verärgert. Seiner Meinung nach, war es absolut indiskutabel, dass Peggy wieder Kontakte zu Sina aufbaute. Und er konnte nicht verstehen, wieso sie das nicht einsehen wollte.
>>Du wirst sie nicht wiedersehen, hast du mich verstanden?<< - >>Sag mal, wie redest du mit mir?<< Peggy sprang ebenfalls auf und sah ihn wütend an. >>Glaubst du, du könntest mir vorschreiben, wen ich treffe und wen nicht? Ich bin kein Kind mehr!<< - >>Wenn du tatsächlich vor hast, dich wieder mit diesem Miststück einzulassen, zweifle ich sehr an deinem erwachsenen Urteilungsvermögen. << zischte Mark. Peggy spürte, wie ihre Hände vor Wut zu zittern begannen. Doch sie schaffte es, ruhig zu bleiben. 
>>Und ich werde ihr helfen!<< verkündigte sie triumphierend. >>Und du wirst mich überhaupt nicht davon abhalten können!<< Ohne den Blick von ihm zu lösen, zog sie ihr Handy hervor und tippte eine Nummer ein. Mark ahnte, was sie vorhatte.
>>Peggy, ich warne dich!<< Sie ließ sich nicht beirren, hielt das Handy ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. >>Lass es!<< versuchte Mark es erneut, erneut erfolglos. Er hörte, wie die Mailbox am anderen Ende der Leitung ansprang.
>>Sina, ich bin’s. << sagte Peggy, den Blick nach wie vor provozierend auf Mark gerichtet. >>Ich werde dir helfen! Sobald ich kann komme ich dich in der Klinik besuchen. Mach dir keine Sorgen! << Sie beendete den Anruf, warf das Handy aufs Sofa, verschränkte die Arme und sah Mark trotzig an. >>So. Und was willst du jetzt machen?<< Mark erwiderte ihren Blick und schluckte schwer gegen die Wut in seinem Hals an. Sie hatte sich tatsächlich für Sina entschieden, wieder einmal. Wieder einmal hatte diese Person es geschafft, sich zwischen ihn und Peggy zu drängen. Und schlimmer noch: Peggy hatte es zugelassen.
>>Ich hab dich für klüger gehalten. << sagte er mit ruhiger Stimme. >>Schade. So kann man sich in Menschen täuschen. << - >>Tja, damit wirst du leben müssen.<< antwortete Peggy, hob Emelie auf ihre Arme und ließ Mark ohne ein weiteres Wort stehen. Er schloss die Augen und schluckte erneut. Seine Wut war verraucht, mittlerweile spürte er Tränen in seinem Hals. Wie er es hasste, mit Peggy in Streit zu liegen! Resigniert faltete er Emelies Krabbeldecke zusammen und legte sie beiseite. Dann lauschte er, doch es war totenstill in der Wohnung. Wahrscheinlich hatte Peggy sich schmollend zurückgezogen. Für einen Moment überlegte Mark, ob er nicht einfach zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und sagen sollte: komm, vergessen wir das Ganze! Das ist doch albern! Andererseits stand er nach wie vor auf seinem Standpunkt, und Peggy erging es wahrscheinlich ähnlich. Und so würde die Stille wohl noch den ganzen restlichen Tag andauern.

Mit einem leicht mulmigen Gefühl, holte Peggy ihre Handtasche aus dem Schrank, packte Handy, Schlüssel und Portemonnaie hinein und atmete tief durch. Es war Samstag, heute war sie mit Sina verabredet. In der Klinik. Und nach wie vor gegen Marks Willen. Knapp eine Woche war seit ihrem Streit vergangen und keiner von beiden hatte sich ein Herz fassen und einen Schritt auf den anderen zugehen können. Gesprochen hatten sie nur das nötigste, die meiste Zeit waren sie sich irgendwie aus dem Weg gegangen. Mark hatte viele Ausflüge mit Emelie unternommen, während Peggy in der Uni war und Peggy hatte dort freiwillig mehr Zeit verbracht, als in den gesamten letzten Monaten, nur um der angespannte Stimmung Zuhause zu entgehen. Es war furchtbar! Peggy blutete das Herz, aber dennoch war sie noch immer ein wenig sauer und enttäuscht, dass Mark ihre Entscheidung einfach nicht nachvollziehen konnte. Oder wollte.
Leise trat sie aus dem Schlafzimmer auf den Flur, aus Mark Arbeitszimmer fiel ein schwacher Lichtschein auf den Boden. Wahrscheinlich vergrub er sich mal wieder hinter seinem Schreibtisch, wie so oft in den letzten Tagen. Vielleicht sollte ich einfach gehen, dachte Peggy. Ich gehe einfach so, ohne mich zu verabschieden und wieder groß erklären zu müssen. Doch im letzten Moment entschied sie sich doch dagegen. Das brachte sie einfach nicht über sich!
Zaghaft klopfte sie an die Tür und schob sich ins Zimmer. Wie erwartet saß Mark vor dem Laptop und sah kaum hoch, als Peggy an ihn heran trat. Sie warf einen knappen Blick auf den Bildschirm,  auf dem ein irre langer Text zu sehen war, doch es interessierte sie nicht weiter, was Mark da studierte. Hauptsache es gelang ihr, sich ohne großes Drama von ihm zu verabschieden.
>>Ich bin jetzt unterwegs. << sagte sie ruhig. >>Ich hab das Handy dabei, falls was ist. Aber ich denke, in ein paar Stunden bin ich wieder da. << - >>Viel Spaß. << antwortete Mark, ohne sie anzusehen und ohne irgendwelche Emotionen zu verraten. Diese kühle abweisende Art war schmerzlicher, als wenn er ihr noch einmal eine Strafpredigt gehalten hätte. Peggy schluckte. >>Müssen wir wirklich so mit einander umgehen?<< - >>Das ist nun wirklich nicht meine Schuld. << Jetzt sah Mark doch zu ihr hoch. Peggy registrierte, dass er nicht gut aussah. Auch ihm schien diese ganze Sache sehr zuzusetzen. Und merkwürdigerweise war sie für einen kleinen Moment lang erleichtert, dann war sie ihm wenigstens nicht egal geworden …
>>Kann ich dein Auto haben?<< fragte sie, von einer Spur neuen Mutes beseelt, doch Mark wandte sich ab. >>Nein. << - >>Und wieso nicht?<< - >>Ich bin nach wie vor dagegen, dass du da hin fährst. Also erwarte nicht von mir, dass ich das auch noch unterstütze. <<
Es hatte keinen Sinn, noch weiter darüber zu diskutieren, das spürte Peggy ganz genau. Dann würde sie eben mit der S-Bahn fahren, auch gut. Wenn Mark sich einbildete, er könnte sie durch so etwas von ihrem Vorhaben abbringen, täuschte er sich gewaltig. Peggy spürte erneut, wie Wut in ihr hochkam, doch sie kämpfte sie mit aller Macht nieder. Sie beugte sich über Emelies Stubenwagen und streichelte ihrer Tochter liebevoll über den Kopf. >>Mach’s gut, meine Süße. Mama ist bald wieder da. << Dann richtete sie sich auf und schaute Mark an, der nach wie vor ungerührt da saß, seine Miene war wie versteinert. Peggys Herz klopfte wild, dennoch ging sie einen Schritt auf ihn zu. >>Bis später. << murmelte sie und näherte ihre Lippen zu seinen, um ihn den Abschiedskuss zu geben, wie sie es immer machte, wenn sie aus dem Haus ging. Doch in diesem Moment wandte Mark das Gesicht ab, Peggys Kuss traf nur knapp seine Wange, der Rest verhauchte ins Leere! Sie starrte ihn ungläubig an. Das hatte er noch nie gemacht. Noch nie! Nie zuvor hatte er ihren Kuss abgewehrt, sich so von ihr zurückgezogen. Jetzt war es passiert. Und es tat weh, schrecklich weh! So weh, dass Peggy kein Wort mehr herausbrachte, tapfer gegen die Tränen ankämpfte und beinahe fluchtartig den Raum verließ.