Die Nachhilfestunde 66: no risk, no fun

Und wirklich: selbst der Geruch schien der gleiche geblieben zu sein, wie Peggy feststellte, als sie durch die Flure ging und sich umsah. Und an jeder Ecke entsann sie sich neuen Erinnerungen: an dieser Wand hatten einst die Bilder gehangen, die sie im Kunstunterricht gemalt hatten. Damals war sie vielleicht in der 6. oder 7. Klasse gewesen. Und dort auf der steinernen Bank, hatten sie und Annika so manches Mal noch kurz vor Beginn der Stunde ihre Hausaufgaben gekritzelt.
Peggy musste lächeln, als sie auf eine weitere Spur der Vergangenheit stieß: sie war eine Treppe höher gegangen und stand nun vor den Türen, die zum Lehrerzimmer führten. Das Lehrerzimmer! Wie hatte sie jedes Mal gebetet und gehofft, dass Mark ihr über den Weg laufen würde, wann immer sie hier entlang gegangen war. Und wie enttäuscht war sie gewesen, wenn er einfach nicht auftauchen wollte! Heute kam sie sich ziemlich albern vor, dass sie ihn beinahe schon verfolgt hatte, aber sie war nun einmal ein verliebter Teenie gewesen, den Kopf voller Flausen und wild-  romantischer Gedanken.  Nie hätte sie auch nur zu träumen gewagt, dass Mark ebenfalls Gefühle für sie hegte …

Peggys Blick fiel auf die gerahmten Hochglanzfotos, die einige Schritte weiter an der Wand hingen. Das waren die Bilder der vergangenen Abiturjahrgänge … dieses Jahr, letztes Jahr, vorletztes … sie suchte die Reihen ab, bis sie ihren Jahrgang gefunden hatte und blieb stehen. Sie entdeckte sich unter den Gesichtern sofort und lächelte amüsiert. Das sollte sie gewesen sein? Unmöglich!
Lange betrachtete sie das Foto, auf dem sie und all ihre Jahrgangskameraden glücklich und voller Optimismus in die Kamera strahlten. Was waren sie alle froh gewesen, die manchmal so lästige Schulzeit endlich hinter sich gebracht zu haben und nun durchstarten zu können mit dem, was einen wirklich interessierte, was man wirklich machen wollte! Es war ja ganz einfach, nun stand einem die Welt offen … so dachten sie jedenfalls. Aber die raue Wirklichkeit sah anders aus. In der rauen Wirklichkeit, musste man um Studienplätze feilschen, sich bei Wohnungssuchen mit der Konkurrenz anlegen, seine Finanzen beisammen halten und so furchtbar erwachsen sein … Peggy schluckte, als sie plötzlich Tränen in den Augen spürte. Gerne würde sie die Jahre zurückdrehen können, ihre Schulzeit nochmal erleben wollen. Mit allen Höhen und Tiefen, mit dem Wissen von heute …
>>Hier bist du! Ich suche dich schon überall!<< erklang da Marks Stimme wie von weiter Ferne und Peggy wischte sich rasch über die Wangen, doch er hatte ihre Tränen schon bemerkt und trat besorgt an sie heran. >>Was hast du?<< - >>Ach nichts … ich hab nur das Bild da gesehen und bin ein bisschen sentimental
geworden. << Peggy deutete auf das Foto, dann kramte sie schniefend in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. >>Schau nur, wie ich da aussehe! Furchtbar!<< - >>Du sahst ganz wunderbar aus!<< entgegnete Mark sanft und musterte sie. >>Damals, wie heute. << Peggy trug an diesem Abend einen schwarzen, eng anliegenden Jumpsuite, schulterfrei, und hohe Schuhe. Ihre hochgesteckten Haare, gaben den Blick auf ein paar silbern glitzernde Ohrringe frei, die den restlichen Schmuck gut ergänzten. Mark war sich sicher, dass sie auf alle Anwesenden einen hervorragenden Eindruck machte!

>>Kommst du wieder mit raus?<< fragte er. >>Entschuldige, dass du vorhin so abgedrängt wurdest, aber alle waren so neugierig … << - >>Kein Problem. << Peggy lächelte und atmete tief durch. >>Ich gehe mich nur schnell frisch machen, okay? <<
Sie steuerte die Waschräume an und Mark blieb unschlüssig zurück. Er kämpfte mit sich: sollte er ihr folgen und weitere Erinnerungen an alte Zeiten aufleben lassen? An Zeiten, an denen sie sich verstecken und heimlich treffen mussten, als sie sich heimlich geliebt hatten? Oder sollte er lieber brav hier warten und die Finger von dieser umwerfend attraktiven Frau in diesem perfekt sitzenden schwarzen Satinstoff lassen, die da gerade hinter der Tür verschwunden war?


Nadja Jahnke trank den Sekt in ihrem Glas mit einem Zug leer und stellte es auf einem der bereitgestellten Tische ab. Sie sah sich um, die Stimmung schien ganz gut zu sein: überall lachende, schwatzende Menschengruppen, fröhliche Gesichter. Na immerhin, sie hatte schon befürchtet, dass der Abend ein Desaster werden würde, denn sie hatte nicht viel Gutes über die Tradition des Sommerballs gehört, den sie heute zum ersten Mal miterlebte und auch mit organisiert hatte. Aber es schienen sich tatsächlich alle Anwesenden gut zu amüsieren. Für sie persönlich allerdings hätte die ganze Sache besser laufen können. Sie hatte Mark schon wieder aus den Augen verloren. Vorhin hatte sie ihn kurz gesehen, da war er allerdings in Begleitung einer verdammt gut aussehenden Blondine in einem superschicken schwarzen Fummel gewesen, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Deswegen hatte sie sich auch nicht getraut, ihn anzusprechen, sie wollte die Lage erst einmal abchecken. Doch nun war er wie vom Erdboden verschluckt! Und dabei wollte sie ihn heute doch endgültig davon überzeugen, wieder als Lehrer hier einzusteigen. Dann würde sie ihn nämlich viel öfter sehen und mit ihm zusammenarbeiten können … und dann würde er vielleicht endlich ein wenig mehr auf sie aufmerksam werden. Sie schüttelte den Kopf und klopfte sich innerlich auf die Finger: er war in einer Beziehung! Und er hatte eine Tochter! So sehr wie sie ihn auch gut fand: die Tatsache, dass er in festen Händen war, hielt sie von allen weiteren Schwärmereien ab. Damals, als er noch ungebunden war, da hätte sie vielleicht eine Chance gehabt, aber ein vergebener Mann, noch dazu mit einem Kind, das war einfach ein Tabu! Da hatte sie die Finger von zu lassen, auch wenn es ihr schwer fiel. Aber sie war selber ein Scheidungskind, deshalb wusste sie, was es bedeutete, wenn plötzlich eine wildfremde Frau daherkommt und eine intakte Familie auseinander reißt.
Nadja seufzte und betrat das Schulgebäude. Sie wollte sich rasch die Hände waschen und dann endlich das Buffet unsicher machen. Und vielleicht würde sie ja dann bald mit Mark ein wenig ins Plaudern kommen. Immerhin …
Sie öffnete die Tür zum Waschraum, wich erschrocken zurück und blieb perplex stehen. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah: Mark und diese Blondine von vorhin, in eindeutiger Position! Sein Hemd lag auf dem Boden und unter ihrem leicht verrutschten Oberteil des Jumpsuites lugte schwarz-rote Spitzenwäsche hervor, die die junge Frau rasch zu verbergen versuchte. Sie lief rot an, es war offensichtlich, wie peinlich ihr das Ganze war!
>>Was machst du denn hier?<< fragte Mark überflüssigerweise. Nadja, die bis eben noch wie hypnotisiert auf seinen Oberkörper gestarrt hatte versuchte, sich zu fangen. >>Du bist gut! Die Frage könnte wohl eher ich stellen! Obwohl … eigentlich auch nicht. << Rasch hob Mark sein Hemd vom Boden auf und warf es sich über, während Peggy in ihre Schuhe schlüpfte. Oh man, wie unangenehm!
Nadja betrachtete sie und als sich ihre Wangen erneut mit diesem zarten Rot überzogen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
>>Peggy!<< rief sie. >>Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne! Du warst doch hier mal Schülerin!<< - >>Nadja!<< Auch Peggy hatte sie sofort wiedererkannt. >>Ja, richtig. So sieht man sich wieder. <<

Für einen Augenblick herrschte tödliche Stille, doch dann brach Nadja in schallendes Gelächter aus, während Mark und Peggy sich irritiert ansahen.
>>Ihr seid doch echt nicht mehr zu retten!<< sagte Nadja atemlos. >>Während einer Schulfeier im Waschraum rummachen, wo jederzeit
jemand … also echt! << Sie lachte und lachte und irgendwann, als ihr schon die Tränen liefen, konnten sich auch Mark und Peggy entspannen.  >>Ich dachte, du willst hier wieder arbeiten. Wenn das der Paulsen sieht, wird da nichts
draus. << ->>Ach, der kennt das schon. << kicherte Peggy und Nadja hielt verdutzt inne und holte tief Luft. >>Ich glaube, ihr müsst mir da einiges erklären!<

Nadjas Augen wurden immer größer, je mehr Details Mark und Peggy über ihre Beziehung verlauten ließen, als die drei wenig später wieder draußen auf dem Schulhof, ein wenig abseits der anderen Besucher standen. Sie plauderten schon eine ganze Weile und Peggy musste zugeben, dass Nadja gar nicht so unsympathisch war, wie sie sie in Erinnerung hatte. Aber als Schüler hatte man ja oft keine allzu objektive Meinung von seinen Lehrern. Erst wenn man selber Erwachsen war stellte man fest, dass es auch nur Menschen waren, privat ganz anders, als vor der Tafel.
>>Also ward ihr schon zusammen, als du hier noch Schülerin warst, Peggy?<< musste Nadja noch einmal nachfragen und schüttelte noch immer ein wenig fassungslos den Kopf. >>Das war doch der reinste Wahnsinn! << - >>Klar. Aber sag das mal einem verknallten Mädchenherzen. << scherzte Mark und Peggy sah ihn entrüstet an. >>Du warst auch nicht unbeteiligt an der Sache, Mister! Und du bist viel höhere Risiken eingegangen. << - >>Ja, das stimmt. Aber es hat sich gelohnt!<< Er zog sie ein wenig näher zu sich heran und schnupperte leicht an ihren Haaren. Himmlisch! Zu schade, dass Nadja sie vorhin unterbrochen hatte …
>>Und deine Tochter … ? << - >>Ist unsere Tochter. << nickte Peggy und beantwortete so Nadjas unausgesprochene Frage. Nadja hob ein wenig pikiert die Augenbrauen. >>Das ging ja fix! Und wann wird geheiratet?<< Mark verschluckte sich beinahe an seinem Getränk und bekam Herzklopfen. Er wollte schon zu einer ausweichenden Antwort ansetzen, doch Peggy kam ihm zögerlich zuvor. >>Heiraten? Also da haben wir nicht dran gedacht.  << - >>Noch nicht. << korrigierte Mark und erntete einen reichlich überraschten Blick von Peggy. Erneut schlug sein Herz schneller. Frag nicht weiter nach, betete er stumm. Bitte frag einfach nicht weiter nach … 
>>Auch eine?<< Nadja zog eine Schachtel Zigaretten hervor und reichte sie Mark, doch er lehnte ab. Er wusste, dass er in letzter Zeit wieder viel zu viel geraucht hatte.
>>Danke, lieber nicht. << - >>Peggy?<< - >>Ich rauche gar nicht. << - >>Sei froh!<< Nadja zündete die Zigarette an und nahm einen schnellen Zug, während Peggy unauffällig einen Schritt zurück trat. Sie hasste diesen Geruch einfach!
Sie ließ ihren Blick über die Gesellschaft schweifen, in der sich hier und da weitere Gesprächsgruppen zusammengetan hatten. Sie bemerkte die Blicke, die ihr einige Mitglieder des Lehrerkollegiums zuwarfen und winkte ihnen unbekümmert zu, sie winkten ein wenig zögerlich zurück. Wahrscheinlich grübelten sie gerade, woher sie sie kannten, oder ob das wirklich die Peggy war, die sie damals irgendwann mal unterrichtet hatten und wieso genau diese Peggy jetzt so dicht neben Mark Winter stand. Bei dem Gedanken daran, musste Peggy grinsen. Ein wenig kompliziert war das alles nach wie vor noch immer!
>>Auf jeden Fall wäre es klasse, wenn du hier wieder anfangen würdest. << hörte sie Nadja an Mark gewandt sagen und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. >>Dieses eingeschlafene Kollegium könnte ein bisschen frischen Wind gut gebrauchen! Jemanden, der nicht strikt an den eingefahrenen Strukturen festhält, ein bisschen quer denkt, was Neues mit einbringt … << - >>So innovativ bin ich nun auch wieder nicht. << unterbrach Mark ihren Enthusiasmus, Nadja trat einen Schritt auf ihn zu. >>Ich würde mich trotzdem sehr freuen!<< Dann lächelte sie Peggy freundschaftlich an. >>Keine Sorge, ich komme dir nicht ins Gehege. << - >>Da habe ich auch keine Sorge. << lächelte Peggy zurück, legte die Arme um Mark und kuschelte sich ein wenig an ihn. Sollen doch alle denken, was sie wollen, dachte sie und atmete seinen wunderbaren Duft ein. Herrlich! Wieso war Nadja vorhin bloß dazwischen gekommen?!