Die Nachhilfestunde 54: Carpe Diem 2.0

Wenig später nahm Dr. Berger neben Peggy auf einem der Stühle platz und sah sie lange an. Sie sah, wie blass Peggy war, wie nervös, die Haut an ihren Händen war marmoriert, und sicherlich eiskalt. In solchen Momenten verfluchte die Ärztin ihren Job: wenn Tierbesitzer über Wohl und Wehe ihrer zumeist vierbeinigen Freunde entscheiden mussten und sie selber nicht allzu viel ausrichten konnte.
>>Würdest du uns wohl kurz alleine lassen?<< bat Dr. Berger mit einem raschen Blick zu Annika, diese nickte und machte Anstalten, aufzustehen, doch Peggy hielt sie zurück und sah Dr. Berger bittend an. >>Kann sie nicht hier bleiben? Sie ist meine beste Freundin und ich glaube, ich brauche sie jetzt. << - >>In Ordnung, wenn du das so möchtest. << Dr. Berger nickte und Annika sank langsam wieder auf ihren Platz. Sie war gerührt von Peggys Worten. Es schien so, als könnte tatsächlich nichts ihre Freundschaft zerstören, egal, wie schäbig sie sich selbst manchmal verhalten hatte.
>>Hast du dich entschieden, was Davina angeht?<< fragte Dr. Berger vorsichtig , Peggy schluckte und nickte langsam. Ihr Herz klopfte wie wild. Am liebsten wäre sie sofort abgehauen. Tür auf, weglaufen und auf nimmer wiedersehen! Doch das ging nicht, das war ihr klar… sie bemühte sich, ihre Gedanken wieder in die richtige Richtung zu bringen.
>>Wissen Sie, ich liebe dieses Tier!<< begann sie leise. >>Ich bin nicht oft bei ihr gewesen, besonders in letzter Zeit, aber die Erinnerungen, die ich an Davina habe, gehören zu den wunderbarsten überhaupt! Ich will einfach nicht, dass sie stirbt!<< Ihre Stimme klang verzweifelt, wie Dr. Berger feststellte. Verzweifelt, traurig und hilflos. Und gleichzeitig stellte sie fest, dass Peggy offenbar fest entschlossen war, das Leben ihres Pferdes zu retten. Leider war das unmöglich, doch in solch einem emotionalen Ausnahmezustand, war Peggy wahrscheinlich für keinerlei rationale Argumente zugänglich.
>>Ich will nicht, dass sie stirbt. << fuhr Peggy fort. >>Aber ich weiß, dass sich das nicht verhindern lässt. << Sie schaute auf und sah der Ärztin direkt in die Augen. >>Ist es nicht so?<< Dr. Berger atmete tief aus und nickte betroffen. Leider war dies die volle Wahrheit.  >>Dann sorgen Sie dafür, dass sie so wenig wie möglich leidet. << fuhr Peggy fort, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Dr. Berger versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen, rätselte, was Peggys Aussage zu bedeuten hatte. >>Du stimmst der Einschläferung zu?<< wagte sie schließlich einen Vorstoß und sah Peggys schmerzliches Nicken. Sie ahnte, wie unfassbar weh es tun musste und ergriff Peggys Hand, sie war tatsächlich eiskalt.
Eine Weile saßen sie schweigend da, es gab einfach nichts zu sagen. Annika kämpfte mit den Tränen. Sie fühlte sich so hilflos, machtlos, ohnmächtig. Wenn sie doch nur irgendetwas tun könnte!
>>Wird es jetzt gleich passieren?<< durchbrach Peggys dünne Stimme irgendwann die Stille, Dr. Berger sah auf. >>Nein! Ich muss noch einige Vorbereitungen treffen. Ich werde mich bei dir melden, wenn es soweit ist … es tut mir so leid, Peggy!<< fügte sie noch hinzu, Peggy sah sie an und blickte in das bernsteinfarbene Augenpaar, das sie voll Mitgefühl anschaute.

Der erste Weg führte Peggy in Emelies Zimmer, als sie wenig später wieder Zuhause angelangt war. Dort lag die Kleine in ihrem Kinderbett, fröhlich vor sich herbrabbelnd, ein kleines Stoffschäfchen in ihren winzigen Fingern. Sie hatte tatsächlich schon etwas Greifen gelernt! Peggy blickte voller Liebe auf sie herab, in ihrem Herz tobten Trauer und Freude zugleich: Trauer über die soeben getroffene, unvermeidliche Entscheidung, was ihr Pferd anging, und Freude über dieses kostbare kleine Geschöpf, das ihr Kind war!
Behutsam hob Peggy sie aus dem Bett auf ihre Arme und drückte sie ansich, fühlte ihre Wärme, nahm den wunderbaren Babyhautgeruch wahr und das zarte Stimmchen an ihrem Ohr. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürrte und schluckte gegen die Tränen an.
>>Du bist das allergrößte Geschenk in meinem Leben! Niemand wird dich je mehr lieben, als ich!<< Sie bemerkte, wie Emelies Brabbeln verstummte, wie aufmerksam ihr Blick wurde, so als würde sie ihr tatsächlich zuhören.  Es war ein schönes Gefühl!

>>Ich hätte dir Davina so gerne mal gezeigt. << murmelte Peggy, als sie sich auf die Couch setzte, Emelie nach wie vor fest in den Armen haltend. >>Ich hätte dich so gerne mal auf ihren Rücken gesetzt, vielleicht hättest du auf ihr später sogar reiten gelernt. So wie ich. << Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als sie Davina kennegelernt hatte. Als kleines Mädchen hatte sie gehörigen Respekt vor so einem großen Tier gehabt, sich jedoch gleichzeitig riesig gefreut, als sie endlich mit ihr ausreiten durfte! Und als sie dann auch noch ihr Pflegepferd geworden war, war sie völlig aus dem Häuschen gewesen und sie hatte sich, ihren Eltern und Davina selbst geschworen, immer auf sie aufzupassen, sich immer um sie zu kümmern und ihr niemals ein Leid geschehen zu lassen. Und heute saß sie hier und musste sich eingestehen, dass sie keines dieser Versprechen hatte halten können. Es war furchtbar!
>>Wenn du etwas größer bist, werde ich dir Fotos von ihr zeigen. Dann siehst du, was für ein stolzes, prächtiges Tier es ist … es war. << fügte Peggy bitter hinzu und erneut durchzog Schmerz ihre Seele. Emelie würde Davina wohl niemals kennenlernen … andererseits: wieso nicht?
Rasch zog sie ihr Handy hervor. Timo hatte sie dreimal angerufen, doch das registrierte sie nur nebenbei, als sie das Display entsperrte und Marks Nummer wählte. Wo steckte er überhaupt?
>>Peggy, endlich! Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Wo warst du?<< meldete sich Mark nach wenigen Sekunden, Peggy runzelte ein wenig verärgert die Stirn. >>Und wo bist du?<<  - >>Oben bei Sascha. Aber mach dir keine Sorgen. Emelie schläft und ich hab das Babyphone hier. <<
Bei Sascha, wie immer. Die beiden gluckten in der letzten Zeit ständig zusammen, jedenfalls kam Peggy das so vor. Und ständig taten sie geheimnisvoll. Doch sie hatte keine Lust, sich jetzt darüber Gedanken zu machen.
>>Emelie schläft nicht. Sie ist wach und wohlauf. << erklärte sie, einen Moment war es still in der Leitung. >>Woher weißt du das?<< - >>Ich bin gerade nach Hause gekommen. Ich war bei Dr. Berger. << - >>Oh. << Peggy hörte die Betroffenheit aus Marks Stimme heraus, sicher wusste er auch ohne lange Erläuterungen, wie sie sich entschieden hatte.
>>Mir fiel gerade ein, dass ich gerne nochmal mit Emelie in den Stall fahren würde. Kommst du mit?<< - >>Schöne Idee. Bin dabei. << Peggy lächelte, das liebte sie so an ihm! Dass er für sie da war, wenn sie ihn brauchte und ihr zur Seite stand, so gut es ging! Es konnte einfach keinen besseren Mann auf dieser Welt geben! >>Gut, dann mache ich die Kleine schonmal fertig und warte auf dich. << - >>Okay, ich bin gleich unten. <<  Peggy legte auf, ging zum Schrank und suchte passende Kleidung für Emelie zusammen. Ein wenig schockiert bemerkte sie, wieviele Klamotten sie schon jetzt besaß! Leider konnte weder Peggy noch Mark ausreichend widerstehen, wenn sie nach Kleidung für ihre Tochter suchten. Ein Jäckchen war süßer, als das andere, eine Leggings hübscher, als die nächste …
>>Du hast fast mehr Sachen, als ich. << grinste Peggy mit einem Blick auf Emelie. Wie sollte das nur werden, wenn sie größer war und als Teenager regelmäßig shoppen ging?!


>>Ich kann mir schon denken, wie du dich entschieden
hast. << sagte Mark vorsichtig, als sie im Auto saßen und den Weg zum Stall eingeschlagen hatten. Peggy sah so blass und mitgenommen aus, dass es keinen Zweifel geben konnte. Sie nickte. >>Es bricht mir das Herz! Aber ich weiß, dass es letztendlich das Beste für Davina
ist. <<  - >>Wahrscheinlich. Gibt’s schon einen Termin?<< - >>Nein, Dr. Berger meldet sich dann bei
mir. << Sie verstummte. Schon jetzt fürchtete sie sich vor dem Anruf der Ärztin.

Mark parkte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz, der vor dem Gestüt lag, stieg aus und setzte Emelie in den Kinderwagen, während Peggy noch sitzen blieb und erneut ihr Handy checkte: schon wieder ein verpasster Anruf von Timo. Was wollte er denn bloß von ihr? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, beschloss jedoch, erst später nachzuforschen, was es damit aufsich hatte. Jetzt gab es wichtigeres. Sie verließ ebenfalls das Auto und trat den Weg zum Stall an, der ihr so vertraut war, wie eh und je.
>>Bist du eigentlich schon mal hier gewesen?<< fragte sie an Mark gewandt, dieser nickte. >>Na klar, sag bloß, das hast du vergessen.<< Peggy dachte angestrengt nach: wann war Mark denn im Stall gewesen? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. >>Allerdings waren die Umstände alles andere als schön. << fügte Mark hinzu, doch auch jetzt blickte Peggy ihn nur verwirrt an. Er seufzte und blieb stehen. >>Als wir getrennt waren. Ich hab dich hier aufgesucht, um dich zu bitten, mir und uns noch eine Chance zu geben. << Peggy schluckte. Ja, urplötzlich waren aller Erinnerungen zurückgekehrt!  Damals war sie so unendlich traurig gewesen und hatte Trost bei ihrem Pferd gesucht. Und dann war Mark aufgetaucht …
>>Ach ja, stimmt. Sorry, diesen Teil unserer Geschichte verdränge ich gerne. << - >>Geht mir auch so. Aber er existiert nun mal. << antwortete Mark und Peggy zog es vor, nichts zu erwidern.

Davina stand nach wie vor ruhig und, wie Peggy ein wenig erleichtert feststellte, scheinbar zufrieden in ihrer Box. Sie schnaubte leise, als Mark und Peggy näher traten.
>>Hey große. Da bin ich wieder. << begrüßte Peggy das Tier und streckte die Hand aus, um es streicheln zu können. Das Fell war stumpf und glanzlos geworden, das Futter lag beinahe unangerührt da. Peggy überkam eine Gänsehaut. Das war es also, wovon Dr. Berger gesprochen hatte …
>>Ob sie mich auch noch kennt?<< fragte Mark zweifelnd, Peggy nickte, da war sie sich sicher. Tiere hatten einfach ein unwahrscheinliches Gespür.
Mark hob Emelie auf seine Arme und trat ebenfalls etwas näher an die Box heran. >>Schau mal, ist das nicht ein schönes Tier?<< Emelies Augen wurden noch ein Stück größer, als sie es ohnehin schon waren, ihr kleiner Mund blieb offen stehen. Sie war voll und ganz gefangen von dieser neuen Erfahrung. Ihr kleiner Arm streckte sich nach
vorne aus, ihre Finger bewegten sich hin und her als wolle sie Davina berühren. Bei diesem Anblick ging Peggy erneut das Herz über! >>Wie süß!<< - >>Ganz die Mama. Sie wird später sicher auch einmal eine Pferdernärrin. << erwiderte Mark und drückte ihr einen Kuss aufs Haar.  >>Ja. Nur leider wird Davina dann nicht mehr leben. << Peggy spürte die Tränen in ihren Augen brennen und schniefte. Sie öffnete die Box und fand es wie immer wunderbar, dass Davina kein bisschen scheute. Sie lehnte ihren Kopf an ihren Hals und schloss die Augen. Wie gerne sie das tat! Und schon immer getan hatte! Es war einfach zum verrückt werden, dass sie rein gar nichts für das Tier tun konnte!
>>Ich kann mir vorstellen, wie weh es dir tut. << sagte Mark in dem Moment, als hätte er ihre Gedanken erraten. Peggy sah auf und nickte traurig. >>Es ist schrecklich! Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass sie… << - >>Quäl dich nicht so!<< unterbrach Mark sanft und betrat ebenfalls die Box. Nie zuvor hatte er in einer Pferdebox gestanden, noch dazu mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Aber er konnte es nicht ertragen, Peggy so verloren zu sehen.
>>Noch lebt sie! Und das solltest du genießen, solange es geht. << - >>Wie meinst du das?<< - >>Naja, deine Reitsachen hast du doch noch, oder?<< Langsam dämmerte es Peggy, worauf er hinaus wollte. >>Du meinst, ich soll nochmal ausreiten? Ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Das letzte Mal ist Jahre her!<< - >>Es muss ja kein großer Ausritt sein. Aber wenn du hier in die Reithalle gehst, wird dir das sicher gut tun. Und Davina vielleicht auch. Carpe Diem, weißt du noch? << Er zwinkerte und Peggy musste grinsen. Carpe Diem! Auch das weckte Erinnerungen in ihr, allerdings deutlich angenehmere. An den Tag ihrer Abifeier, als sie und Mark ziemlich angetrunken gewesen und schließlich auf der Schultoilette aufeinander getroffen waren ... und Alkohol und Leidenschaft hatten schließlich Überhand genommen! Es war verrückt, gefährlich und wahnsinnig schön gewesen.
Peggy lächelte und bemühte sich, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie tätschelte Davinas Rücken. Wie lange hatte sie nicht mehr auf einem Pferd gesessen! Vielleicht war dies ja tatsächlich eine gute Gelegenheit, ihr Hobby wieder aufzunehmen. Und wenn es nur für diesen einen Nachmittag war.

>>Aber ich glaube, meine Sachen liegen noch bei meinen Eltern im Keller. Und wer weiß, ob ich da überhaupt noch reinpasse. << - >>Ein Versuch ist es doch wert, oder? Ich würde dich jedenfalls wahnsinnig gerne mal in Reiteruniform sehen. Das ist bestimmt wahnsinnig sexy!<< Mark ließ seinen Blick kurz an ihr schweifen und Peggy konnte sich trotz allem eines herzlichen Lachens nicht erwehren. Carpe Diem, also. Erneut!